Schattenseelen Roman
diesem Versuch starb er.
»Wir müssen ihn fortbringen.« Maria rüttelte an Evelyns Schulter. »Gleich wimmelt es hier von Metamorphen. Die Biester jagen nie allein.«
»Ich glaube, er ist tot«, stammelte Evelyn. Dass es so endete, hatte sie doch nicht gewollt!
»Totsein ist eine Ansichtssache, und Glauben gehört in die Kirche. Steig ins Auto. Aber plötzlich!«
Evelyn ballte die Fäuste. Zurück in eine verrückte
Welt? Ihre Fingernägel gruben sich tief in ihr Fleisch. Niemals.
Marias Augen funkelten. »Ich habe keine Zeit, mit dir zu diskutieren. Entweder du fährst freiwillig auf der Rückbank oder unfreiwillig im Kofferraum. Du hast genau zwei Sekunden, um dich zu entscheiden.«
Evelyn schnaubte. Wütend stierte sie der Frau entgegen. Der Blick der Goth-Lady, so gefasst und kalt, traf sie wie ein Schlag in den Magen und raubte ihr jeden Stursinn. Eins war klar: Sich mit Maria anzulegen bedurfte ganz anderer Fertigkeiten, als mit Tomatendosen nach Hunden zu werfen. Evelyn trottete zum Wagen und schob sich auf die Rückbank. Durch die Heckscheibe sah sie, wie Maria Adrián ohne sichtliche Anstrengungen anhob. So viel Kraft hätte sie ihr niemals zugetraut. Aber in ihrem ehemaligen Leben wäre auch niemand vom Dach gesprungen oder hätte Gedanken gelesen. Die neue Welt, die sich ihr Stück für Stück eröffnete, hatte etwas Verstörendes an sich. Es machte ihr Angst, es verunsicherte und bezauberte sie gleichermaßen.
Maria legte Adrián zu Evelyn auf den Rücksitz. Der schwere, metallische Geruch füllte den von der Sonne des Tages aufgeheizten Innenraum aus. Adriáns Kopf ruhte auf Evelyns Schoß. Sein Blut verschmierte ihre Oberschenkel und ließ den Stoff des Hemdes an ihrer Haut kleben. Ein warmer Tropfen lief ihre Wade herunter.
»Er hätte es nicht tun müssen.« Evelyn strich ihm
die Haarsträhnen aus der Stirn. »Er hätte sich nicht dazwischenstellen müssen.«
Maria stieg ein und startete den Motor. »Wir lassen unseresgleichen nicht im Stich. Gewöhn dich dran.«
»Wer war dieser Hund?«
»Das Seelentier eines Metamorph. Kilian Ney, schätze ich, unser alter Bekannter.«
»Erzählst du mir von denen?«
»Momentan habe ich andere Sorgen, als den Erzähl-Bären zu spielen.« Keine Spur der Herzlichkeit, mit der Maria sie in der Wohnung getröstet hatte.
Der BMW verließ die kleine Gasse und reihte sich in den Autostrom ein. Dank der getönten Scheiben und der Dämmerung bemerkte niemand, welche Fracht er transportierte.
Evelyn riss ein Stoffstück von ihrem Hemd ab und tupfte Adrián das Blut ab. Die tödlichen Wunden verliefen von seiner Wange zur Schlagader und weiter quer über den Hals. An der Schulter hing die Haut in Fetzen, das Fleisch wurde bis zu den Knochen zerteilt. Seine Augen waren halb offen. Sie beugte sich über ihn. Sein glasiger Blick traf ihr Herz wie eine Nadel, die einen noch flatternden Schmetterling aufspießt, und schien sie aufzusaugen. Der Innenraum des Autos, die Fahrgeräusche und die vorbeiziehenden Häuser entzogen sich ihrer Wahrnehmung, während die Dunkelheit sie in einen eisigen Schleier hüllte.
Sie hörte den Ruf und folgte ihm, Schritt für Schritt in die Finsternis. Schatten wölbten sich um sie herum,
als wollten Tausende von Gestalten eine schwarze Membran durchbrechen. Sie spürte Berührungen auf ihrem Gesicht und in ihrem Haar. Von überallher kam ein leises Zischen und Flüstern, Millionen von Stimmen, die zu ihr sprachen.
Komm zu uns … erlöse uns … lass uns frei …
… Evy …
Bloß nicht zurücksehen. Sie musste Adrián in diesem Chaos finden! Unbedingt. Schließlich war es ihre Schuld, dass er hierhergelangt war. Ohne ihn würde sie nicht fortgehen.
»Evy.«
Sie sah seinen Umriss, wie er abgewandt mit gesenktem Kopf vor ihr stand. Sie streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn berühren. Noch ein wenig, noch ein winziger Schritt … Ihre gespreizten Finger zitterten vor Anstrengung. Das Wispern um sie herum wurde lauter, wollte ihn nicht freilassen.
Bleib hier, und wir gehören dir …
»Evelyn!«
Etwas riss sie aus der Dunkelheit. Sie zuckte zusammen und wurde sich ihrer Umgebung bewusst. Ihre Wange brannte wie nach einer Ohrfeige.
Der BMW stand an einer roten Ampel. Maria hatte sich zu ihr gewandt und sah sie eindringlich an. In ihrem Gesicht spiegelte sich Sorge wider, obwohl die Härte der Worte Evelyn peitschte: »Bist du verrückt, ihm in die Augen zu schauen? Was hast du dir bloß dabei gedacht!«
»Nichts«,
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