Schattenseelen Roman
wie möglich.
Adrián rappelte sich hoch. Der Schleier vor seinen Augen verdichtete sich, alles verschwand wie hinter beschlagenem Glas. Sein Kopf fühlte sich schwer an, die Glieder schlaff. Diese verdammte Sonne, sie saugte ihn leer, brannte Blasen auf seine Haut, und er verschwendete seine letzte Energie unwillkürlich für deren Heilung. Er brauchte Nahrung. Ganz dringend.
Ein Schritt und noch einer. Die Kraft verließ ihn schneller, als er gehofft hatte. Endlich gelangte er an den BMW und lehnte sich dagegen.
»Brauchen Sie Hilfe?« Eine Frauenstimme erklang neben ihm, blechern und verzerrt. »Ich habe dieses Auto davonrasen gesehen - hat es Sie angefahren?«
In seiner schwindenden Wahrnehmung sah er einen Engel sich zu ihm beugen, der an der Hand einen anderen, kleineren Engel führte.
»Sind Sie verletzt? Ich rufe gleich einen Arzt.« Dann das erschrockene Wimmern eines Mädchens: »Mami, stirbt der Mann?«
Ein safrangelbes Schimmern, warm glühend, umgab die beiden und weckte seine Gier. Wie ein Raubtier reckte sie sich in ihm, kroch empor, leckte an seinen Sinnen. Noch konnte er sie zurückdrängen, tief in die Dunkelheit seiner Seele. Aber lange würde er keinen Widerstand leisten können.
Die sanften Hände fuhren ihm über das Gesicht. »Hören Sie mich? Es wird alles gut. Halten Sie durch.«
Verzweiflung und Sorge umhüllten seine Sinne. Das Engelwesen bangte - ausgerechnet um ihn, der es gleich vernichten würde.
»Flieht.« Er wollte die beiden davonjagen, doch es gelang ihm nicht, sich auch nur zu rühren.
»Mami, ich habe Angst!«
»Nicht jetzt, Sinja. Lauf zurück nach Hause und warte dort auf mich. Hörst du?« Und zu ihm: »Bleiben Sie bei mir, hören Sie? Sehen Sie mich an! Es wird alles gut.«
Nein. Wird es nicht.
Geht fort, verschwindet von hier! Lasst mich allein, wollte er rufen.
Seine Gier schwoll wie ein bösartiger Tumor an und gewann die Kontrolle über ihn. Sein Herz pumpte schneller, während es immer kälter um ihn herum wurde.
Geht fort … geht fort … geht fort, betete er, bis seine Instinkte über seinen Verstand die Oberhand gewonnen hatten. Ein Krampf bäumte seinen Körper auf. Adrián schrie. Wie eine Zange packte seine Hand, über die er nicht länger Herr war, den Nacken des Engels. Das Safrangelb erzitterte, als er seinen Totenkuss an die noch lebendigen Lippen presste.
Wärme liebkoste sein Gesicht, erhitzte es, bis die Weißglut das Fleisch von seinen Knochen zu verzehren schien. Die Energie, die in ihm sprudelte, versetzte ihn in Ekstase. Bilder aus einem fremden Leben zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Schöne Bilder,
die ihm etwas von diesem fernen Glück schenkten. Der Engel stöhnte, während das Kreischen des Mädchens am Rande seiner Wahrnehmung hallte. Dann verschlang ihn die Dunkelheit.
Adrián erwachte, als tauche er aus einer dickflüssigen Suppe auf. Wie lange er ohnmächtig gewesen war, vermochte er nicht einzuschätzen, und es dauerte, bis er die Zeiger auf seiner Uhr erkennen konnte. Nur wenige Minuten waren vergangen, stellte er fest. Die Erinnerungen kehrten langsam zurück.
Mit einer Schläfe lehnte sich Adrián gegen die kalte Karosserie des BMWs, die ihm etwas Linderung verschaffte. Allmählich begann er, die Welt um sich herum zu erfassen. Neben ihm lagen zwei Leichen: eine Frau Mitte dreißig, in einem eleganten Kostüm und mit einer Designer-Tasche, deren Inhalt sich während des kurzen Kampfes über den Boden verteilt hatte. Und ein Mädchen, ein Grundschulkind mit dunkelblonden Locken und einem pinkfarbenen Ranzen, von dem glitzernde Ponys mit großen, traurigen Augen aufschauten. Blauschwarze Beulen entstellten die Gesichter der beiden. Das Lächeln, das auf ihren Lippen lag, wirkte grotesk und ließ Adrián sogar jetzt noch erschaudern, obwohl er es schon oft gesehen hatte. Das Leben, so hieß es, zieht vor den Augen eines Sterbenden vorbei - und er sorgte dafür, dass es nach Möglichkeit schöne Erinnerungen waren.
Vor Erbitterung, vor Wut auf sich selbst konnte er
kaum atmen. Mutter und Tochter. Zwei Engel, die ihm das Leben geschenkt hatten, auf das er kein Recht besaß. Niemals würde er sich daran gewöhnen, und er fragte sich, wie Maria ihre Existenz zu solch einem Preis akzeptieren konnte. Oder Conrad.
Conrad …
Ein Name, der in ihm Hass auslöste - Hass, Tatendrang und Rachegelüste. Dieser Mann hatte Hermann auf dem Gewissen und vielleicht auch Evelyn. Die Puzzleteile fügten sich zusammen: die Drohung, die
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