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Schattenspäher

Schattenspäher

Titel: Schattenspäher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Sturges
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Bett, nehmen gemeinsam ihre Mahlzeiten ein. Sie spielen zusammen auf dem Rasen, winden miteinander die Kränze aus Gänseblümchen, wie Sela es Milla beigebracht hat. Sie führen füreinander kleine Theaterstücke auf, lesen sich gegenseitig laut vor (meistens liest Sela, und Milla hört zu), singen sich in den Schlaf. Sie machen derbe Witze über die Vetteln und sogar manchmal über Oca. Sela lernt von Milla ein neues Wort für Oca: Eunuch. Sie sind unzertrennlich, verbringen jede Minute des Tages miteinander. Außer der Zeit, in der Selas »Spezialunterricht« stattfindet.
    Nachdem er Milla hergebracht hat, fuhr Lord Tanen wieder fort, und deshalb ist die Zeit im Herrenhaus voller Licht und Leichtigkeit. Die Vetteln beobachten sie beim Spielen, doch sie sagen nichts. Ihre andauernde liebevolle Fürsorge hat nachgelassen und wurde durch neugieriges Zuschauen ersetzt.
    Vor seiner Abreise hat Lord Tanen Sela beiseitegenommen und ihr gesagt, dass Milla ein paar Dinge niemals erfahren darf. Und dass er ihr Milla wieder wegnehmen würde, sollte sie je davon erfahren. Sela wusste sofort, wovon er sprach: dem Töten.
    Sela liebt das Töten und freut sich immer sehr auf ihre täglichen Übungen im Keller des Hauses. Solange sie denken kann, so lange ist das Töten ihr ganz persönliches Geheimnis. Die unechten Feinde, vor denen sie sich auf Geheiß von Lord Tanen schützen muss, sind immer sehr wehrhaft. Milla hat man Selas Übungsstunden als »Spezialunterricht« verkauft. Zum Glück interessiert sich Milla nicht für Unterricht.
    »Was machst du eigentlich jeden Morgen da unten«, hat Milla sie einmal gefragt.
    »Ich übe mich in meiner Gabe. Ich besitze die Gabe der Empathie.«
    Milla zuckt die Achseln. Sie hat keine Verwendung für Gaben, besitzt nicht mal selbst welche. Sie lächelt. »Was für ein Glück du hast.«
    Sela weiß, dass Milla nicht besonders klug ist. Sie ist süß und liebenswürdig und vertrauensvoll, doch es fällt ihr oftmals schwer, Dinge zu verstehen, die Sela ohne Weiteres begreift. Am Anfang hat es Sela gestört, doch nun hat sie sich daran gewöhnt.
    Den ersten Faden erschafft Sela zwischen sich und Milla eines Tages nach einem Abendessen. Sie sind auf ihrem Zimmer und lachen über die Warze in Beginas Gesicht. Begina ist eine der Vetteln, die kälteste von ihnen und diejenige, die Sela am schnellsten mal mit einem Lineal schlägt.
    Sie lachen und lachen, und Sela nimmt Milla in ihre Arme und drückt sie fest an sich. Milla kitzelt sie. Sie lachen wieder. Dann fällt Milla und schlägt mit dem Kopf auf dem Fußboden auf.
    »Aua!«, ruft Sela und greift sich an den Kopf.
    »Warum sagst du ›Aua‹?« Lachend setzt sich Milla auf und fasst sich an den Hinterkopf. »Ich bin doch hingefallen.«
    »Weiß nicht ...« Sela sieht ihre Freundin an, und da ist es: ein dicker flauschiger Faden in Rosa und Gold, gemacht aus Licht, der von ihr zu Milla reicht. Eigentlich ist es kein richtiger Faden, wie man ihn im Nähkasten auf der Garnrolle findet. Und eigentlich besteht er auch nicht aus Licht. Es ist eine wie auch immer geartete Verbindung, und Millas Gedanken und Gefühle vermischen sich darin mit den ihren. Nie zuvor hat sich Sela jemandem so nah gefühlt, hatte immer geglaubt, dass so viel Nähe eigentlich gar nicht möglich ist.
    »Was ist das?«, fragt Milla. »Mir ist irgendwie komisch.«
    »Mir ist, als könnte ich einfach loslassen und für immer verschwinden«, sagt Sela. Ihre Stimme ist weich und zart, und sie beginnt zu vergessen, wer von ihnen wer ist. Ist sie Sela oder Milla? Ist sie überhaupt jemand?
    Sie erhascht einen flüchtigen Blick auf etwas. Etwas, das mächtig und wahr ist. Als Sela in Milla hineingleitet und Milla und Sela gemeinsam davongleiten, nimmt an ihrer Stelle etwas Wahreres als sie beide Gestalt an. Sela wird erfüllt von einem Schwall aus Emotionen, die sie nicht erklären kann.
    »Ich mag das nicht«, sagt Milla. Sela schaut zu ihr, sieht, dass der Faden, der kein Faden ist, zu zucken beginnt und durchzogen ist von dicken Rinnsalen aus Purpur und Grün und Braun, die das Rosa zerrütten, es straff spannen, es hässlich aussehen lassen.
    Abscheu. Doch ist es ihre oder Millas Abscheu? Milla hat Angst vor ihr, hatte immer Angst vor ihr. Hat sich in Selas Gegenwart stets unwohl gefühlt.
    Nein, es ist Selas Abscheu. Abscheu gegenüber Millas Verrat.
    Wer fühlt das gerade?
    Die Tür wird aufgerissen, und Lord Tanen platzt ins Zimmer. Aber er sollte doch gar nicht hier sein

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