Schattenspäher
wichtige Entscheidung getroffen wurde, und sie wusste, sie würde einen Weg finden, auch dort eine bedeutende Rolle zu spielen.
Ach ja, auch Silberdun weilte in der Hauptstadt. Aber das war nicht der Grund.
Es klopfte an der Tür ihres Büros. Rasch schob sie die Schriftstücke unter die Schreibtischunterlage. Sie hatte nicht vor, sich zu verabschieden. Sie wollte die Dokumente einfach auf der Bühne zurücklassen, neben einem Blendwerk von sich selbst, das Auf Wiedersehen winkte.
»Da wartet jemand auf dich in der Eingangshalle«, sagte Rieger.
Seit dem Tag in seinem Zimmer, wo sie ihn geheilt hatte, konnte ihr Rieger nicht mehr in die Augen sehen. Etwas Unerklärliches war ihm in jener Nacht widerfahren. Er war ihr dankbar, ja, und gleichzeitig hatte er entsetzliche Angst vor ihr. Sie hatten sich seit jenem Tag nicht einmal mehr berührt.
Faella stand auf und richtete im Spiegel ihr Haar. Wer auch immer in der Halle auf sie wartete, sie würde sich darum kümmern und sich dann mit einer Flasche billigem Rotwein auf ihr Zimmer zurückziehen. Dort würde sie die letzten Formalitäten erledigen, warten, bis alle gegangen waren und dann ihren Abschied inszenieren.
Die Halle war fast leer; ein paar Nachzügler standen noch bei der Tür: Pärchen, die ihr Beisammensein in die Länge zogen, einsame Männer und Frauen, die nicht wussten, wohin. Faella konnte niemanden entdecken, der wegen ihr hier war.
»›Windung‹ war sehr beeindruckend«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum, und da stand Perrin Alt, Lord Silberdun, mit einem neuen Antlitz. Er war nicht wie ein Adliger gekleidet, trug vielmehr die Sachen eines Kaufmanns aus Smaragdstadt. Der Hut war ihm tief ins Gesicht geschoben. Er sah ihr in die Augen, dann erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.
»Lord Silberdun«, sagte sie förmlich. »Was für eine Überraschung.« Das Herz hämmerte in ihrer Brust, drohte fast herauszuspringen und auf der Straße davonzulaufen.
»Wie schön, dich wiederzusehen«, sagte er. Seine Stimme war ruhig, klang ehrlich, ganz und gar nicht rachsüchtig oder verächtlich. Entweder hatte er ihr vergeben, oder er war ein exzellenter Schauspieler.
»Ja, ich freue mich auch.« Zitterte ihre Stimme? Sie hoffte inständig, dass es nicht so war.
»Ich muss mit dir sprechen.« Er sah sich in der Halle um. »Unter vier Augen, wenn's möglich ist. Es geht um eine wichtige Angelegenheit.«
Eine wichtige Angelegenheit.
»Natürlich«, sagte sie. »Komm mit.« Sie führte ihn durch den Eingangsbereich am Kartenhäuschen vorbei hinter die Bühne und von dort in ihr Büro. Sie schloss die Tür.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie.
Er umfasste ihre Schultern, zog sie an sich, presste sich fest an sie und küsste sie. Oh.
All ihre Fantasien wurden in diesem einen Moment Wirklichkeit. Faellas Kopf trieb in den Wolken. Zunächst bekam sie gar nicht mit, ob und wie ihr Körper auf all das reagierte, ihre Welt drehte sich so wild um sie herum, dass sie fast vergaß, wo sie war.
Doch dann fühlte sie seine warme Hand an ihrem Rücken, und da spürte sie, dass mit ihrem Körper alles in Ordnung war.
Sie griff hinter sich, schob die Schreibtischunterlage aus dem Weg und zog Silberdun auf sich. Die sorgfältig zusammengestellten Dokumente flatterten zu Boden. Sie beschloss, sie einfach dort zu lassen. Sollten sich die Bittersüßen Erstaunlichen Mestina doch selbst einen Reim darauf machen.
»Ich fragte mich schon, wie lange es dauern würde, bis du wieder zu mir zurückkommst«, sagte sie atemlos.
Er hörte kurz auf, ihren Nacken zu küssen und raunte: »Und ich hab mich gefragt, wie lange ich wohl würde widerstehen können.«
35. KAPITEL
Nur selten begegnet man einem Mann, der so töricht ist, eine dumme Entscheidung zu treffen und gleichzeitig so klug, um am Ende davon zu profitieren.
- Meister Jedron
»Ich hoffe, das funktioniert auch«, brummte Everess. »Die Invasion der Unseelie steht unmittelbar bevor, während wir wieder mal den Zorn der Chthoniker auf uns ziehen, indem wir abermals ihren Tempel entweihen.«
Vier Tage waren seit Eisenfuß' Entdeckung nun ins Land gegangen. Die Kriegsvorbereitungen waren abgeschlossen, die Truppen an der Grenze zusammengezogen worden. Jem-Aleth, der Seelie-Botschafter, war gestern ohne Kommentar aus der Stadt Mab abberufen worden. Der Krieg stand praktisch auf der Türschwelle.
Eisenfuß hingegen stand auf dem Altar im Tempel des Gebundenen Althoin
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