Schattenspäher
gänzlich anderen Level. Da waren keine Augen, kein Körper.
Ein Faden sprang aus ihr heraus. Ein dicker, seilartiger Faden verband sie mit einer Präsenz, die größer und angsteinflößender war als alles, was sie bisher kennen gelernt hatte. Eine uralte Intelligenz, eine Weisheit jenseits aller Äonen, jenseits aller Sterne. Diese Entität sah sie, und sie kannte sie.
Sie wurde von Flammen verzehrt. Sie verging. Dann wurde ihr Körper jäh zur Seite gerissen - doch natürlich war da gar kein Körper -, und sie fiel hart, fiel auf einen Steinuntergrund.
»Tut mir leid«, hörte sie die Stimme eines Mädchens. Faella.
Sela schlug die Augen auf. Sie kniete auf einer steinernen Plattform. Auch Silberdun, Eisenfuß und Faella waren hier. Faella war auf den Füßen gelandet, während Silberdun und Eisenfuß sich vom harten Boden aufrappelten.
Die Plattform war rund und besaß eine steinerne Brüstung. Jenseits der Brüstung lag das Nichts. Nicht Dunkelheit, nicht Licht. Einfach ... nichts. Sela hatte kein Wort dafür. Leere ohne Form oder Substanz, es fehlte gar jegliches Nichtvorhandensein. Zutiefst beunruhigend.
»Tut mir leid, dass ich uns alle fast getötet hätte«, sagte Faella. »Aber ich fürchte, wir haben nicht bedacht, dass die Raumfalte uns geradewegs in das Behältnis und nicht auf einen sicheren Landeplatz befördern würde. Also hab ich innerhalb der Faltung eine kleine Korrektur vorgenommen. Ist schwieriger, als es sich anhört, das kann ich euch sagen.«
»Wo sind wir?«, fragte Sela mit bebender Stimme.
»Schau mal hinter dich«, sagte Silberdun.
Sela erhob sich und wandte sich um. Sie erblickte eine breite Straße, die auf eine mächtige Treppe zulief. Die Stufen führten hinauf zu einem riesigen schwarzen Gebäude. Eine quadratische Burg von rötlich-oranger Farbe ohne Mauern, Türme oder Zinnen. Ein massiver, schnörkelloser, gigantischer Bau. Kolossaler selbst als die Große Seelie-Feste und zweimal so hoch.
Direkt vor ihnen, am Beginn der breiten Straße, ragte ein hoher steinerner Torbogen auf. Darauf fand sich eine Zeile aus Zeichen, die Sela nicht zu lesen vermochte.
»Was bedeutet das?«, fragte sie.
Eisenfuß sah am Torbogen hinauf und versuchte, die Inschrift zu entziffern. »Das ist Thule Fae«, sagte er schließlich. »Hab's in Königinnenbrück studiert. Aber es ist ein sehr alter Dialekt. Gebt mir noch einen Moment ...«
»Und? Was steht da?«, fragte Silberdun ungeduldig.
»Da steht: Jenseits dieses Bogens liegt der Tod.‹«
»Nicht sehr einladend«, meinte Silberdun.
»Na toll. Und wie geht's jetzt weiter, großer Anführer?«, fragte Eisenfuß.
Silberdun sah ihn mürrisch an. »Wir gehen rein und schauen uns um«, sagte er.
»Und die Warnung?«
»Hoffen wir, dass die maßlos übertrieben ist.«
»Ich will ja keine schlechte Laune aufkommen lassen«, meldete sich nun Faella zu Wort, »aber was ich euch jetzt zu sagen habe, ist nicht gerade ermutigend.«
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, stöhnte Silberdun.
»Während wir in der Raumfalte waren ... Ich fürchte, da ist auch einiges an Zeit vergangen. Und ich meine damit mehr Zeit, als ihr vielleicht vermutet.«
»Wie viel Zeit?«, fragte Eisenfuß.
»Ich schätze, etwa vier Tage«, erwiderte Faella.
»Verdammt!«, rief Silberdun aus. »Dann ist der Krieg ja schon in vollem Gange!«
36. KAPITEL
Kampfmoral ist wirklich Gold wert. Hätte ich die Wahl zwischen einem zuversichtlichen Soldaten mit einer Keule und einem mutlosen mit einem Schwert, ich würde mich jederzeit für den Mann mit der Keule entscheiden. Nach der Schlacht von Eisholz wurde General Ameus gefragt, warum er siegte, obwohl seine Leute hoffnungslos in der Unterzahl waren. Seine bis heute berühmte Antwort lautete:
»Wir hatten einfach weniger Lust zu sterben als die anderen.«
- Heerführer Tae Filarete, Betrachtungen zur Schlacht
Mauritane begrüßte die Invasion keineswegs, doch das hieß nicht, dass er deswegen seine Aufgabe schlecht machte.
Er stand vor seinem Zelt und blickte Richtung Norden. Nachdenklich verfolgte er, wie seine Seelie-Truppen westwärts auf der Grenzstraße zu den Ruinen von Selafae marschierten. Dort würden sie sich sammeln und bei Sonnenuntergang geschlossen auf Unseelie-Territorium vordringen. Der Grenzwall hingegen lag etwa hundert Meter weiter nördlich; zwischen ihm und der Straße befand sich eine Schneise aus Sumpfland.
Ein schier endloser Strom aus Soldaten, Karren und Pferden zog an ihm vorbei und
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