Schattenspäher
bitte schön nicht ignorieren. Nachdem es vorbei war, hatten sich die Aufpasser in Selas Hörweite zugeraunt, dass das Prinzipal Theater schon seit über sechshundert Jahren geschlossen und Horeg der Glorreiche so glorreich nun auch wieder nicht gewesen sei. Er war erst fünfundvierzig.
Panner-La, ein ehemaliger Heerführer, hatte es geschafft, unter dem Haus einen zwölf Meter langen Tunnel zu graben, bevor er geschnappt wurde. Er hatte gerade so viel von seinem Verfluchten Objekt abgehobelt, dass er mit Hilfe der Elemente Erde in Luft verwandeln konnte. Auf diese Weise hatte er sich im Verlauf von zwanzig Jahren einen oder zwei Zentimeter täglich durch den Untergrund gewühlt.
Viele Fluchtversuche waren unternommen worden, doch Sela konnte sich nicht daran erinnern, dass auch nur einer von Erfolg gekrönt gewesen war.
Das kalte Eisen hielt die meisten von ihnen in Schach, doch die Gaben einiger hier waren so stark, dass man sie nie ganz unter Kontrolle halten konnte. Etwa Brinoni, die Tochter eines Vasallen an Titanias Hof, deren Gabe der Vorhersehung so mächtig war, dass sie ihr gesamtes Dasein in der Zukunft zubrachte, stets mehrere Stunden der Gegenwart voraus. Während sie versuchte, sich in ihrer Zeit zu bewegen, zuckte und bebte ihr Körper unablässig. Ihre Sprache war größtenteils unverständlich, da sie ständig auf Dinge reagierte, die noch gar nicht getan oder gesagt worden waren, was wiederum ihre eigenen Visionen empfindlich störte. Brinoni weilte in einer Zukunft, die niemand außer ihr erleben würde - eine Zukunft, die nur dann in dieser Form eintreten würde, wenn sie eben nicht ihr Zeuge gewesen wäre.
Die Gaben einiger Patienten waren so stark und gefährlich, dass man sie ununterbrochen ruhigstellen musste. Prin, ein ehemaliger Portalmeister, zum Beispiel war einmal zwischen den Welten stecken geblieben und hatte darüber den Verstand verloren. Würde man ihn in wachem Zustand belassen, könnte er das ganze Haus und einen guten Teil des Landes drum herum in eine gänzlich andere Welt befördern oder an einen jener dunklen Orte ... Sela fand Prins Schicksal unsagbar tragisch, und sie hätte ihn nur zu gern von seinem Elend erlöst, wenn es ihr ungesehen möglich gewesen wäre. Selbst mit dem Eisenreifen um ihren Arm und trotz all der Drogen, die man ihm verabreichte, konnte sie Prins Pein fühlen. Seine Qualen waren so immens, dass es ihr einmal fast gelungen wäre, eine Gedankenverbindung zu ihm herzustellen. Aber eben nur fast. Gedankenverbindungen hatte es hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben.
In Selas Fall war der Armreif hochwirksam. Ihr Talent erforderte Konzentration, und das Verfluchte Objekt brachte ihren Geist gerade so sehr aus dem Lot, dass sie in dieser Hinsicht völlig hilflos blieb. Unter allen Patienten in Haus Katzengold war sie die Einzige, die nicht verrückt war. Auch war sie keine Gefahr für sich selbst. Der einzige Grund, warum Sela in Haus Katzengold blieb, war der Umstand, dass niemand wusste, was man sonst mit ihr anstellen sollte.
Sela verstand, dass man sie nicht einfach freilassen konnte. Zumindest verstand sie, warum ihre Aufpasser dies dachten. Sela wusste - zumindest erinnerte sie sich daran, dies zu wissen, da ihr Gedächtnis eines der vielen Dinge war, die der Reif empfindlich störte -, dass sie in Freiheit durchaus einen Weg finden konnte, keine Gefahr für ihre Umwelt darzustellen. Doch angesichts ihrer Geschichte war es schwer, jemanden davon zu überzeugen.
Wann immer sie über ihre Vergangenheit nachdachte, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu Milla. Und dann überwältigte sie die Erinnerung an Milla so sehr, dass sie zusammenbrach. Der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Während der Regen jenseits der Terrassenüberdachung aufs Grundstück niederprasselte, erlebte Sela die Qualen Millas aufs Neue. Ein Schmerz, unvermindert stark wie am ersten Tag, egal, wie viele Verfluchte Objekte man ihr um den Arm schmiedete, egal, wie viele Flaschen »Vergessen« man sie zwang, zu schlucken. Milla war real gewesen, und Milla war tot, und das war allein ihre Schuld. Es war die Wahrheit; eine grässliche Wahrheit. Und etwas, das niemand mehr ungeschehen machen konnte.
Oh, Milla ...
Ein Wärter, der Sela auf der Terrasse weinen sah, eilte herbei und reichte ihr ein Taschentuch, ein kühles Getränk und ein Gurkensandwich. Alles, um sie zu erfreuen, auf dass sie sich nur beruhigte. Man gefiel sich in der Vorstellung, die Patienten in Haus
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