Schattenspäher
Silberdun ruhig, »wurde ich für diese Aufgabe aufgrund meiner Stärke ausgewählt, oder weil ich in der vermeintlich glücklichen Lage bin, die Arkadier bespitzeln zu können?«
»Ich tue niemals etwas aus nur einem einzigen Grund«, meinte Everess. »So oder so, es wird Zeit, dass Ihr aufhört, euch zu sträuben wie eine Ziege am Strick und endlich an die Arbeit geht.«
Silberdun wollte protestieren, doch er konnte es nicht.
6. KAPITEL
»Du bist wahnsinnig«, sagte die Ziege zum Bär und sprang auf und ab.
»Das bin ich«, erwiderte der Bär.
»Doch es liegt Stärke im Wahnsinn.«
- aus »Die Ziege und der Bär«, eine Seelie-Fabel
Haus Katzengold stand auf einem Anwesen, das fast eine Tagesreise von Smaragdstadt entfernt lag. Ein wenig abseits der Mechesyl Uberlandstraße erhob es sich gleich hinter einer mit Fichten und Tannen bewachsenen Anhöhe. Hier begann das Westtal, auf dessen hohen Berggipfeln der Schnee niemals schmolz und in dem allein immergrüne Pflanzen gediehen. Die Koniferen, die sich hier, an der Grenze zum Westtal, bereits unter die Laubwälder mischten, durchsetzten die Landschaft mit nur wenigen dunklen Farbtupfern inmitten einer Welt aus Farben.
Das Haus war noch verhältnismäßig neu, keine dreihundert Jahre alt. Gestiftet worden war es von der sechzigsten Lady Katzengold nach jenem unglückseligen Ereignis, bei dem ihr Sohn in einem Kaffeehaus die Kontrolle über seine Gabe der Elemente verloren hatte. Dabei waren zwölf Gäste und er selbst zu Sand verwandelt worden. Der Vorfall wurde von der Königlichen Garde totgeschwiegen. Stattdessen wurde ein Feuer gelegt, und der rechtmäßige Erbe des Titels angemessen betrauert. Die am Boden zerstörte Mutter vermachte das Familienanwesen daraufhin der Krone und verfügte, dass es nur dazu genutzt werden dürfe, weitere Tragödien zu verhindern. Nachdem sie ihren Nachlass geregelt hatte, nahm Lady Katzengold Gift und folgte ihrem Sohn in den Tod.
Das Haus selbst war groß und verwinkelt und zu Lebzeiten der Familie mehr als einmal planlos zauberverwandelt worden. Der Großonkel der armen Lady Katzengold war so etwas wie ein Amateurzauberverwandler gewesen und hatte so manche architektonisch fragwürdige Entscheidung hinsichtlich des Aus- und Umbaus getroffen. Nun war das Haus dreimal so groß wie zum Zeitpunkt seiner Erbauung, wenngleich sich darin etliche Zimmer befanden, die für immer und ewig verloren waren. Es heißt, eine unglückliche Nichte der Familie sei unabsichtlich in einem dieser Räume eingeschlossen worden, nachdem man das Haus wieder einmal rücksichtslos umgewandelt hatte, und würde bis auf den heutigen Tag dort herumspuken.
Die stufenartig angelegte Terrasse war Selas Lieblingsort. Von hier aus konnte man das kleine Tal hinterm Haus überblicken. Nichts Künstliches trübte die Aussicht. Nur Bäume, Himmel, Erde und kleine Tiere, die Sela manchmal eigenhändig mit Getreide fütterte. Wenn sie könnte, würde sie an einem Regentag einfach die Steinstufen hinabsteigen und barfuß durchs Gras laufen, während ihr das regennasse Haar ins Gesicht klatschte, und auf Nimmerwiedersehen in den Wäldern verschwinden.
Ein Wunschtraum, nicht mehr. Denn die Terrasse war umgeben von einem Zaun aus reinster Bewegung, der sie auf sehr unerfreuliche Weise von Exkursionen ins umliegende Grundstück abhalten würde. Dass die kleinen Tiere diese Barriere durchschreiten konnten und sie nicht, war Sela ein kleiner Trost. So war zumindest ein Teil von ihr frei, nämlich jener Teil, den diese Geschöpfe verkörperten. Das war etwas, das sie rein verstandesmäßig wusste, nicht aber zu fühlen imstande war. Nicht an diesem Ort. Nicht mit diesem verfluchten Objekt an ihrem Arm.
Das Verfluchte Objekt war ein fingerdicker Reif aus kaltem Eisen, der sich eng um ihren Oberarm schlang und wohlig an ihr Fleisch schmiegte. Der Ring war mit reinstem Platin überzogen, damit er ihre Haut nicht verbrannte, doch sein Vorhandensein stört ihr re so sehr, dass sie kaum denken, geschweige denn ihre einzigartigen Gaben einsetzen konnte.
So mancher in Haus Katzengold hatte schon versucht, von hier zu fliehen. Zum Beispiel Horeg der Glorreiche, ein ehemals berühmter Mestina. Horeg hatte sich den Arm am Schultergelenk abgetrennt, doch seine Bewacher hatten ihn halb verblutet auf der Straße entdeckt und wieder zurück ins Haus geschleift. Den ganzen Weg über hatte Horeg geschimpft, er sei einst im Prinzipal Theater aufgetreten, und das könne man doch
Weitere Kostenlose Bücher