Schattenspäher
spät.
»Fräulein Faella!«
Faella sah auf und entdeckte Bend, einen der Bühnenarbeiter, der gerade in den Zuschauerraum rannte.
»Bend?«, fragte sie scharf. »Wo sind die anderen?«
»Ihr müsst entschuldigen, Fräulein. Hab Euch erst zu Hause aufgesucht, aber Ihr wart schon fort.«
»Warum? Was ist denn los?«
»Es geht um Rieger«, sagte Bend. »Er ist schwer verletzt. Wurde niedergestochen.«
»Grundgütiger Himmel!« Sie und Bend rannten aus dem Theater. Rieger war Faellas Gelegenheitsliebhaber, doch vor allem war er einer ihrer besten Mestinas.
Estacana war eine ungewöhnliche Stadt. Einst für Riesen erbaut, waren ihre Straßen zu breit, die Fenster der Häuser zu groß und die Treppenstufen zu hoch. Doch Faella gefiel das. Sie mochte Dinge, die größer als das Leben selbst waren. Allerdings nahm die Stadt sie heute nicht gefangen. Sie folgte Bend durch die Straßen bis zur Mansarde im vierten Stock, in der Rieger wohnte.
Der Raum war voller Schauspieler und sonstigem Personal der Bittersüßen, die allesamt sehr besorgt dreinschauten. Typisch Mestinas - stets gleichermaßen melodramatisch wie nutzlos, wenn es mal ernst wurde.
»Alles raus hier!«, bellte Faella. »Geht ins Theater und macht euch nützlich.« Schon schob sie die Ersten zur Tür hinaus.
Als der Raum endlich leer war, trat sie an Riegers Bett und sah auf ihn hinab. Die Heilerin, eine ältere Frau in einem gestärkten schwarzen Kleid, versorgte Riegers verletzten Leib mit Kräutern und Rauch, blies den weißen heilenden Qualm behutsam in die Stichwunde. Riegers Schwester Ada saß neben dem Bett und hielt seine Hand.
Die Heilerin sah auf; ihr Blick fiel auf Faella. »Wer seid Ihr?«, fragte sie.
»Ich bin Faella, seine Arbeitgeberin.«
»Werdet Ihr mich für meine Dienste bezahlen?«, fragte die Heilerin.
»Ja. Lasst ihm jede Hilfe zukommen, die Ihr zu geben vermögt.«
Die Heilerin nickte, griff nach ihrer Tasche und wühlte darin herum.
Faella kniete nieder und strich Rieger durchs Haar. Er war nicht bei Bewusstsein; sein Atem ging stoßweise.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie Ada leise.
»Ach, Ihr kennt ihn doch«, erwiderte Ada. »Er war im Wirtshaus und hat dort bis zum Morgengrauen getrunken. Er und ein anderer Gast ließen sich auf ein Wetttrinken ein, doch dann geriet das Ganze irgendwie zu einer Schlägerei. Rieger hat mit seinen Fäusten gekämpft, doch der andere hatte ein Messer.«
»Weiß man, wer das war?«
»Sicher«, sagte Ada. »Er heißt Malik Em. Aber er ist bei den Wölfen, und deshalb wird ihm nichts geschehen.«
Die Wölfe waren eine Diebesbande, die schlau genug war, einen Teil ihrer Einkünfte an die Stadtwachen abzutreten. Unantastbar.
»Verstehe«, sagte Faella. Sie sah wieder zu Rieger, und Mitleid ergriff von ihr Besitz. Sie liebte ihn nicht, und er liebte sie ganz gewiss auch nicht. Aber sie hatte ihn gern. Er war ein zärtlicher und geistreicher Mann, und er brachte sie zum Lachen.
Ihr Blick fiel auf die Stichverletzung. Die Heilerin hatte das getrocknete Blut fortgewaschen, sodass die gezackte, klaffende Wunde nun umso deutlicher aus dem Fleisch herausstach.
Faella nahm die Heilerin beiseite. »Was meint Ihr?«, fragte sie.
Die Heilerin sah Rieger an und dachte nach. »Es gibt noch einiges, was ich versuchen könnte, aber ich will ehrlich zu Euch sein: Es sieht nicht gut aus. Er wird wahrscheinlich sterben, egal, was ich noch unternehme. Der Schnitt ging sehr tief und hat viel Schaden angerichtet.«
»Verstehe«, sagte Faella wieder.
Sie kniete sich erneut ans Bett und nahm die Verletzung in Augenschein. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Ein kleiner Schnitt, nicht länger als ein Finger. Mehr brauchte es nicht, um einen Mann zu töten.
Es erschien ihr absurd. Lächerlich. Wie konnte etwas so Kleines so zerstörerisch sein?
Sie wollte die Wunde berühren, wusste nicht einmal, warum. Ada stand am Ende des Raums und sprach mit der Heilerin, die der Schwester zeigte, wie man den Verband erneuerte. Faella hatte ein schlechtes Gewissen, als sie mit dem Finger die gezackte rote Wunde berührte.
Zerschnittene Dinge konnte wieder zusammengenäht werden. Faellas Mutter vermochte Kleidung so geschickt zusammenzuflicken, dass man den Riss nicht mehr entdecken konnte. Alles eine Frage der Konzentration, hatte sie immer gesagt.
Faella konzentrierte sich auf Rieger, und ihr Geist glitt in eine Art Tagtraum hinüber, in dem sie sich vorstellte, was alles unter der Haut eines Mannes
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