Schattenspiel
ebenmäßig, daß sich Gina neben ihm ganz plump vorkam. Alles bei ihm schien sich im Einklang zu befinden – die Nase, das Kinn, die Stirn, nichts störte das Gleichgewicht. Das dunkle Haar trug er seitlich gescheitelt und zurückgekämmt. Unter geraden Brauen lagen dunkelbraune Augen mit tiefen Ringen darunter. Die Ringe traten am frühen Morgen deutlich hervor, verloren etwas von ihrer Schärfe im Laufe des Tages und wurden gegen Abend, wenn sich John abgespannt fühlte, wieder stärker. Sie und die Falten rechts und links des Mundes unterbrachen die Ebenmäßigkeit des Gesichtes. Gina war überzeugt, daß John heute mit seinen vierzig Jahren besser aussah als jemals in seiner Jugend.
Sie wandte ihren Blick von ihm ab und sah sich im Zimmer um. Von Anfang an hatte sie diesen Raum wie eine Oase empfunden. Die Wände mit den blaßgelben Seidentapeten, die weichen Sessel aus eierschalenfarbenem Samt, der flauschige,
cremeweiße Teppichboden und die champagnerfarbenen Samtvorhänge an der breiten Glasfront zum Garten hin waren warm und voller Licht. Kristallene Leuchter trugen goldfarbene Kerzen. Aschenbecher, Vasen, Obstschalen im Raum waren aus massivem Gold. Luxus, Schönheit und verschwenderische Üppigkeit waren hier versammelt. Und draußen das blühende Paradies von Kalifornien, ein Garten in Beverly Hills, fernab von Smog und Lärm, eine duftende, bunte, gepflegte Wildnis.
»Du siehst bedrückt aus«, sagte John vom Bett her, »ist irgend etwas nicht in Ordnung, Liebling?«
Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil er »Liebling« sagte. Seine Zärtlichkeit hatte sie immer aufgewühlt. Von Beginn ihrer Beziehung an hatte es John amüsiert, daß man Gina durch alles, was schön und romantisch war, zum Weinen bringen konnte, wohingegen es völlig unmöglich war, ihr eine einzige Träne zu entlocken, indem man sie attackierte. Im Streit konnte sie regelrecht kaltschnäuzig sein, die ganze Palette ihrer Ironie und Bissigkeit, ihrer Angriffslust entfalten, man konnte ihr eine Kränkung nach der anderen an den Kopf werfen, ohne einen anderen Ausdruck als den eines höhnischen Lächelns auf ihr Gesicht zu zaubern. Aber ein einziger großartiger, blutroter und tiefvioletter Sonnenuntergang über dem Pazifik ließ sie völlig die Fassung verlieren. »Du wirst«, sagte John oft, »noch einen Ozean von Tränen vergießen, wenn du immer über allem Schönen zu weinen anfängst.«
Nun erhob er sich vom Bett, trat an Gina heran, schlang beide Arme um sie und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. »Was ist los, Gina?«
»Es ist nichts, John, wirklich: Ich fühle mich einfach nicht so gut.« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie konnte das Bild nicht verscheuchen...David, wie er im hellen Sonnenlicht stand und lachte, und es schwang etwas Grausames in seinem Lachen... Eine unsinnige Angst hatte Gina gepackt und ließ sie nicht mehr los.
»Ich gehe hinunter und mixe uns einen Drink«, sagte John, »kommst du dann auch?«
Sie nickte und sah ihm nach, wie er das Zimmer verließ. Er hatte eine warme Stimme, und sie dachte, es kann nicht gut sein, einen Menschen so zu lieben wie ich ihn liebe.
2
Gina Loret entstammte einer Familie, deren Wurzeln in Marseille an der französischen Küste lagen. »Gina ist zwar keine Seidenhändlerstochter, aber ihr ist trotzdem ein großes Leben vorbestimmt«, hatte ihr Vater oft gesagt. Im achtzehnten Jahrhundert, als die Schreckensherrschaft der Jakobiner gerade am heftigsten tobte, hatte ein Sproß des Clans, der junge Jacques Loret, seinen Kopf nur dadurch in Sicherheit bringen können, daß er in buchstäblich letzter Sekunde seine Heimat verließ und nach England emigrierte. Er begründete den englischen Zweig der Familie – und legte den Grundstein für Ruhm und Reichtum, der mehrere Generationen überdauern sollte: Er kaufte einen kleinen Gemischtwarenhandel im Süden Londons, wirtschaftete ihn mit viel Geschick in die Höhe, machte schließlich ein Kaufhaus daraus. Das Geschäft blühte, schließlich gab es vier Kaufhäuser mit Namen Loret in England, dazu einen berühmten Handel mit Delikatessen. Ginas Großvater, Brian Loret aber, war leider ein berüchtigter Glücksspieler. Im Laufe seines Lebens verspielte er unter den unbestechlichen Augen des Croupiers mehr Geld als er besaß. Als Ginas Vater die Geschäfte übernahm, waren sie bereits tief in den roten Zahlen.
Wie so oft, wenn sehr reiche Familien langsam verarmen, lebten Andrew Loret, seine Frau Jennifer
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