Schattenspiel
betrachtete sich in ihrem Taschenspiegel. »Ich bin entsetzlich blaß. Es ist ja kein Wunder, daß ich nicht braun werde bei diesem Wetter, aber langsam habe ich das Gefühl, die Ferien da oben entziehen mir das letzte bißchen Farbe, das ich noch habe. Findest du auch, daß ich blaß bin, Andrew?«
Andrew wandte sich ihr zu. Er schaute sie an, zärtlich und verliebt. Er schaute sie einen Moment zu lange an.
Den weißen, amerikanischen Sportwagen, vollbesetzt mit ausgelassenen, jungen Leuten, der ihm entgegengebraust kam, sah er den Bruchteil einer Sekunde zu spät, in einem Moment, da kein Ausweichen mehr möglich war. Beide fuhren sie zu schnell, beide schnitten sie daher die Kurve. Sie begegneten einander in der Mitte und krachten frontal aufeinander. Die Autos verkeilten sich so, daß man kaum noch zwei Wagen erkennen konnte, sondern nur noch einen riesigen, undefinierbaren Haufen Blech. Der Regen rauschte noch immer herunter, als die Polizei und Rettungshubschrauber eintrafen. Von den acht am Unfall Beteiligten bargen sie nur eine Person lebend: Gina.
Gina lag mit einer angebrochenen Wirbelsäule und einem schweren Schock monatelang im Krankenhaus. Als sie entlassen wurde, war sie dünn wie ein Grashalm und bleich wie ein Gespenst, aber sie konnte immerhin laufen, anstatt, wie die Ärzte befürchtet hatten, ein Leben lang querschnittgelähmt zu bleiben. Andrews Bruder Robert hatte erklärt, nichts für Gina tun zu können, daher war Großmutter Loret zur Stelle, als ihre Enkelin aus der Klinik kam.
»Wenn du einverstanden bist«, sagte sie, »lebst du von nun an bei mir.« Zwei Jahre verbrachten die beiden in der idyllischen Wildnis, und ganz langsam und zögernd begannen Ginas seelische Wunden zu vernarben. Das schon lange angefaulte Geschäft ihres toten Vaters ging unterdessen mit einem lauten Krachen zugrunde. Über Nacht gab es die Loret-Kaufhäuser nicht mehr, eine amerikanische Firma hatte sie sich für lächerlich wenig Geld einverleibt. Als die unverwüstliche alte Mrs. Loret plötzlich und unerwartet an einem Schlaganfall starb, stand die inzwischen achtjährige Gina allein da – mit keinem anderen Besitz auf der Welt als einem Treuhandfonds, den ihre Großmutter aus der Konkursmasse gerettet und bei einem Londoner Anwalt hinterlegt hatte. Das Geld war für niemanden frei verfügbar und durfte nur von dem Anwalt genutzt werden, und zwar einzig für die bestmögliche Schulausbildung, die ein Kind in England
haben konnte. Mit Ach und Krach würde es dafür gerade reichen.
Joyce Hamilton war eine Cousine der verstorbenen Jennifer, aber sie hatte nicht im entferntesten etwas mit ihr verbunden. Als Mädchen waren die beiden gemeinsam zur Schule gegangen und hatten einander gehaßt. Joyce hatte versucht, Jennifers elegante Kleider zu kopieren, aber da sie klein und dick war, hatte sie es nie geschafft, wie ihre Cousine auszusehen. Sie lebte mit ihrem Mann Fred in einem kleinen Dorf in Kent. Jeden Tag trottete sie die Dorfstraße entlang, um über die verschiedenen Gartenzäune hinweg ihren heißgeliebten Tratsch mit den anderen Frauen des Dorfes zu halten. In ihrem kleinen Häuschen roch es aus unerfindlichen Gründen immer nach Blumenkohl, selbst wenn sie etwas völlig anderes gekocht hatte. (Allerdings gab es bei den Hamiltons meistens Blumenkohl.) Sie achtete streng auf Ordnung und Sauberkeit, sah aber in ihren großgeblümten Kittelkleidern und ausgetretenen Schuhen immer etwas schmuddelig aus. Jeden Samstag kehrte sie stundenlang den Gartenweg, dann wusch sie sich die Haare und drehte sie mit großen Lockenwicklern auf. Am Sonntag dann zog sie eine weiße Rüschenbluse und einen etwas zu engen schwarzen Rock an – man konnte durch den Stoff genau sehen, wo die Linien verliefen, an denen ihre Unterhose ins Fleisch schnitt –, kämmte die Pracht ihrer eiernudelgelben kurzlockigen Haare aus und trottete zur Kirche. Im Laufe der Woche fielen ihre Haare unweigerlich wieder zusammen, bis sie am Freitag nur noch als dünne, fettige Strähnen an ihrem Kopf klebten. Es gab Leute, die behaupteten, es seien die Haare seiner Frau, die Fred Hamilton sooft in die Kneipe trieben.
Joyce liebte es, vor den Augen ihrer Mitmenschen in die Rolle der barmherzigen Samariterin zu schlüpfen. Zudem hatte sie ein ausgeprägtes Machtbedürfnis, und es machte sie glücklich, andere in Abhängigkeit von sich zu wissen. Dies und womöglich der Wunsch nach einer späten Rache an Jennifer hatte sie bewogen, die
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