Schattenspiel
Natalie hatte den Eindruck, als klettere innerhalb weniger Sekunden die Temperatur in der Halle um noch einmal zehn Grad. Am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus. Ihre Klaustrophobie wurde hier bestens
genährt, und verzweifelt – aber vergeblich – versuchte sie das Wissen zu verdrängen, daß sie hier nicht hinaus konnte. Eher wäre es möglich, den Mount Everest zu übersteigen, als durch die Menschenmenge zu dringen. Natalie sah die vollkommen aufgelösten Gesichtszüge eines Teenagers neben sich. Das Mädchen trug ein Billie-Crime-T-Shirt, einen Minirock, der mit Billie-Crime-Buttons bestückt war, und hatte eine Kette um den Hals, an der silberne Buchstaben baumelten, die den Satz: »I love Billie« bildeten. Sie strahlte Natalie an, wobei sie ungeniert ihr gewaltiges Pferdegebiß bleckte. »Ist er nicht geil?« schrie sie.
Natalie nickte schwach und wünschte, es gebe hier etwas, woran sie sich festhalten könnte. Sie spürte ganz deutlich, wie sich die Hysterie in ihr zu einer unberechenbaren Größe zusammenballte und langsam aufstieg. Es war die Hysterie, die sie befiel, wenn sie durch einen dunklen Tunnel fahren mußte, sich auf einem Marktplatz plötzlich im Gedränge eingekeilt sah, wenn es Abend wurde und die Dunkelheit hereinbrach oder sie mit dem Auto in einem Stau steckte und weder vorwärts noch rückwärts kam. Meistens fing sie dann an zu weinen und fühlte sich nahe an einem Kreislaufkollaps. Aber das durfte jetzt nicht geschehen, denn sie mußte unter allen Umständen fit bleiben für das Interview. Sie konzentrierte sich auf ein junges Mädchen, das vor ihr stand, hielt sich gewissermaßen visuell an ihr fest, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie versuchte in Gedanken eine Beschreibung von ihr anzufertigen, um irgendeine Ordnung in ihre durcheinandergewirbelten Sinne zu bringen. Dieses Mädchen hat dunkelblondes Haar, ist sehr schlank, trägt ein schwarzes T-Shirt-Kleid mit breitem Gürtel... ihre Haare reichen bis zum Po...ich habe mir immer so lange Haare gewünscht... ihre Gedanken schweiften in die andere Richtung, es gelang ihr nicht, sie festzuhalten. Crantock bei Nacht, und sie schnitten Maxine die Kehle durch, David fuhr davon, und sie fielen über sie her... Ihr Atem ging keuchend. Sie konnte es nicht mehr aushalten, zum Teufel mit Billie Crime, sie würde keine Sekunde länger bleiben. Sie stieß den Teenie mit dem Pferdegebiß neben sich an. »Kannst du mich bitte vorbeilassen?«
»Was?«
»Mir ist nicht gut... läßt du mich bitte vorbei...« Sie mußte schreien, um sich zu verständigen. Das Pferdegebiß sah sie an, als spreche sie chinesisch. Natalie umklammerte ihr grobes Handgelenk, ohne zu bemerken, daß sie der anderen dabei ihre Fingernägel in die Hand grub. »Bitte...ich muß raus...« In ihrer Stimme schwang bereits ein schriller Unterton. Stumpfe, blaßblaue Augen glotzten sie an. Aber selbst wenn das Pferdegebiß über eine raschere Denkungsart verfügt hätte, es wäre ihm nicht möglich gewesen, auch nur einen Schritt zur Seite zu tun. Es stand ebenso eingekeilt wie Natalie. Und als sie begriff, daß es tatsächlich keinen Weg gab zu entkommen, begann sie zu schreien. Sie schrie und schrie, aber niemand bemerkte es, denn sie schrien alle. Erst als alle Menschen und Geräusche schon ganz weit weg waren, und die Glitzersteine auf Billie Crimes Kostüm zu einem ganzen Himmel voller Sterne wurden, als ihre Knie einknickten, da schien jemand zu bemerken, was mit ihr los war, denn zwischen Musik und Gekreische vernahm sie den Ruf. »Sanitäter! Schnell einen Sanitäter!«
Das letzte, woran sie dachte, ehe sie das Bewußtsein verlor, war, daß Mr. Bush ihr zweifellos kündigen würde.
Gina
1
Gina stand in der geöffneten Gartentür ihres Schlafzimmers und schaute nach draußen in den Garten. Die weiße Marmorbalustrade der Terrasse schimmerte, die warme Luft roch süß und schwer nach Rosen und Glycinien und ein wenig auch nach wildem Salbei. Irgendwo schrie hell ein Vogel. Über die Wände des Zimmers tanzten Schatten. Der Schein der Sonne beleuchtete zart die kleinen Orangenbäume, die in Messingkübeln entlang den Säulen der Veranda standen.
John hatte seine Krawatte abgebunden, er lag auf dem Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Der Tag war lang gewesen, John sah müde aus. Gina betrachtete sein Gesicht: Die eckigen, stark ausgeprägten Wangenknochen, der hart gezeichnete Kiefer, der schmale Mund. Johns Gesicht war so
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