Schattenspiel
und die gemeinsame Tochter Gina zunächst noch immer in äußerst luxuriösen Verhältnissen, lebten gewissermaßen von Geld, das sie eigentlich nicht besaßen. Andrew war ein stiller, melancholischer Mann, der leicht degeneriert wirkte und nur seidene Unterwäsche trug, dreimal täglich badete, unter rätselhaften chronischen Magenbeschwerden litt und sich in der Hauptsache von rotem Kaviar
und Artischockenherzen ernährte. Jennifer hatte ein sprühendes Temperament und neigte zu einer gewissen Weltfremdheit – sie brachte es fertig, beim Einkaufsbummel über einen Fischmarkt Juwelen im Wert von hunderttausend Pfund an Hals und Armen zu tragen, einfach weil sie nach der Party am Abend vorher vergessen hatte, sie abzunehmen. Sie sprach ein wenig häufig dem Alkohol zu. Genauso wie Andrew liebte auch sie die kleine Gina, dieses bildschöne Kind mit den dunklen Haaren und topasfarbenen Augen, abgöttisch.
Das ganze Jahr über unternahmen die drei die großartigsten Reisen. Ob Nizza, Monaco, Marbella, ob Acapulco oder Rio de Janeiro, ob die Wildnis des australischen Busches oder die Steppe von Afrika, ob Melbourne, Tokio, Paris, New York oder San Francisco – es gab nahezu keinen Flecken auf der Erde, wo Gina noch nicht gewesen war. An die meisten Orte erinnerte sie sich allerdings kaum oder gar nicht, weil sie dort nur als Baby im Kinderwagen herumgefahren worden war. Woran sie sich erinnerte : Drei Wochen im Juli verbrachten sie alljährlich in einem kleinen Häuschen im Norden Englands, nahe der schottischen Grenze. Zusammen mit Andrews Bruder Robert, seiner unausstehlichen Frau Margaret, deren vier Töchtern, sowie mit Großmutter Loret. Letzterer gehörte das Haus, und sie war es auch, die an der Tradition hing, die Familie dort zu versammeln. Eigenartigerweise fügten sich alle diesem Wunsch, obwohl der Urlaub dort oben meist verregnet war oder eine Menge Streit brachte. Trotzdem, und obwohl sie Kälte und Regen und ihre Cousinen haßte, blieben diese Familiensommer für Gina zeitlebens mit dem Gefühl von Geborgenheit und Wärme verbunden. Großmutter Loret gehörte zu den zähen alten Damen, die noch mit achtzig auf einem Pferd durch die Gegend galoppieren, ihre Lippenstifte eintrocknen und ihren Schmuck verstauben lassen. Sie lief nur in Jeans und Pullover herum, die weißen Haare mit einer schwarzen Samtschleife zurückgebunden und huldigte dem einfachen Leben. Sie trank frische Kuhmilch und aß Fische, die sie im nahen See selber angelte, sie machte abfällige Bemerkungen über »aufgetakelte Dämchen«, wenn im Fernsehen Modeschauen
über die Bühne gingen, und rauchte wie ein Schlot. Gina, die sehr in der Gefahr gestanden hatte, ein verzogenes, snobistisches Püppchen zu werden (denn genau dazu hatte ihre Mutter jede Voraussetzung geschaffen), bekam durch ihre Großmutter etwas mit, was sie ihr Leben lang nicht mehr vergaß. Auch später, als sie mit John in Kalifornien lebte und alles besaß, was sich ein Mensch nur wünschen kann, geriet sie nie in Abhängigkeit von dem Luxus, der sie umgab. Sie freute sich an ihm, bewahrte sich jedoch eine ironische Distanz dazu.
In dem kleinen Haus in Nordengland gab es für alle zusammen nur ein Bad, beheizt durch einen großen, eisernen Ofen, in dem die Großmutter jeden Morgen ein Feuer anzündete. Gina liebte es, dem Knacken der Holzscheite zu lauschen. In der altmodischen Badewanne standen immer Regenschirme zum Abtropfen, im Gang stolperte man über Gummistiefel, Ping-Pong-Schläger und Pferdebücher. Irgendwie hatte das alles etwas von »große, glückliche Familie«, obwohl sie dauernd stritten und Jennifer von ihrer Schwägerin Margaret sagte, sie sei eine aufgeblasene, verspießerte Kuh.
Gina war sechs, als die Idylle zerbrach. Es war Juli, und es regnete, und die Ferien in Nordengland waren zu Ende. Jennifer träumte von der Karibik. Andrew hatte ihr versprochen, daß sie den August dort verbringen würden. Sie fuhren in ihrem großen, alten Bentley zurück, Andrew steuerte selbst, denn er war ein leidenschaftlicher Autofahrer. Weder er noch Jennifer schnallten sich an. Gina saß auf dem Rücksitz, eingeklemmt zwischen Taschen, Mänteln und einem gewaltigen Picknickkorb. Sie blätterte gelangweilt in einem Bilderbuch. Draußen rauschte der Regen wie ein grauer Vorhang zur Erde, die Straße glänzte schwarz; grünes, tropfnasses Laub wiegte sich rechts und links in den Wäldern. Schafe starrten durch den Nebel den Vorüberfahrenden nach.
Jennifer
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