Schattenspiel
verwaiste Gina bei sich aufzunehmen.
Das Leben in dem spießbürgerlichen Nest der Tante unterschied sich so vollkommen von dem, was Gina gekannt hatte, daß ein weniger robustes Kind wahrscheinlich an diesen neuen Umständen zerbrochen wäre. Aber irgendwo in sich hatte Gina denselben zähen, harten, widerstandsfähigen Kern, der schon Großmutter Loret ausgezeichnet hatte, und der erwies sich jetzt als außerordentlich wichtig. Ihre Eltern hatten ihre Liebe zu Luxus, Schönheit, fernen Ländern und großzügigem Leben geweckt, die Großmutter hatte sie Selbstironie, Unabhängigkeit und Tatkraft gelehrt. Bei Tante Joyce nun entwickelte sie eine scharfe Zunge und die Fähigkeit, sich zu wehren. Alles in allem wurde sie zu einem interessanten Mädchen, von dem jeder glaubte, es werde seinen Weg machen, ohne im Innern allzu viele Kratzer abzubekommen. Möglicherweise war der arme Charles Artany, ihr langjähriger Verehrer und späterer Ehemann der einzige Mensch, der erkannte, daß sie eine verwundete Seele hatte, und er allein begriff, daß ihre Leidenschaft für warme Länder und ewige Sonne auch mit ihrem frierenden Gemüt zusammenhing. Kurz nachdem sie ihr Abschlußexamen in Saint Clare gemacht hatte, lud er sie eines Abends zu einem Konzert in London ein. Sie kam in einem weißen Spitzenkleid, ohne Schmuck, die taillenlangen dunklen Haare offen, und sie sah so zerbrechlich aus, daß es ihm vor Mitleid die Kehle zuschnürte. Er wußte, daß sie Musik als aufwühlend empfand, aber sie war den Abend über heiter und vergnügt, bis zum Schluß eine deutsche Sängerin auf die Bühne trat und Goethes Mignonlied vortrug. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n, in dunklem Laub die Goldorangen glüh’n...«
Ginas Augen füllten sich mit Tränen, ihre Hände umklammerten ihr Handtäschchen.
Die Sängerin hatte eine rauchige, warme Stimmen. »... und Marmorbilder steh’n und seh’n dich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan?«
Gina sprang auf und lief aus dem Saal. Charles folgte ihr natürlich, und weltfremd wie er war, eilte er ihr sogar in die Damentoilette nach, wo sie auf einem Stuhl saß und sich vor
Schluchzen krümmte. Die Toilettenfrau beugte sich ratlos über sie: »Aber, Mädchen, das ist doch kein Mann wert, daß man so um ihn weint!« Dann bemerkte sie den verstörten Charles. »Also wirklich, Sir, das geht zu weit! Das hier ist die Damentoilette!«
Charles kümmerte sich nicht um sie. »Gina, was ist los? Warum weinst du? Ist dir nicht gut?«
»Ach verdammt, Charles Artany!« Sie blickte auf. »Begreif doch, ich muß immer weinen, wenn etwas so wahnsinnig schön ist!«
Charles verspürte den beinahe übermächtigen Wunsch, sie an sich zu ziehen, sie zu trösten und ihr zu versprechen, er werde ein Leben lang für sie sorgen und sie beschützen. Aber er wagte es nicht, denn er wußte längst, daß sie ihn nicht wollte. Er war der gute Freund, mit dem sie ins Kino oder ins Konzert ging. Mehr nicht.
Ihre ganze Kindheit hindurch gelang es Gina einigermaßen gut, Tante Joyce zu entkommen. Zwei Jahre lebte sie in dem schauerlichen Nest, dann wurde sie – das Vermächtnis ihrer Großmutter erfüllend – auf das exklusive Internat Saint Clare geschickt, wo sie die Welt wiederfand, die sie verloren hatte. So weit es ging, verbrachte sie die großen Ferien bei Natalie in Somerset, oder sie blieb mit Mary und deren Vater in der Schule. Ein paarmal allerdings pochte Tante Joyce energisch darauf, ihren Schützling zu sehen. Gina rächte sich, indem sie im Minirock und mit Stöckelschuhen angereist kam und sich einen Schmollmund wie die Bardot malte. Sie zog mit Onkel Fred durch die Kneipen und bot ihm geduldig ihre Schulter zum Ausweinen, wenn ihn im volltrunkenen Zustand der Weltschmerz überfiel. Sie mochte den Onkel, er war ein lieber, langweiliger, armer Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Tante Joyce vermutete natürlich sofort, daß sich mehr zwischen den beiden abspielte, denn das war es genau, was sie Jennifers Tochter zutraute. Sie bekam eine schwere Gallenkolik, legte sich sechs Wochen lang ins Bett und zwang die wutentbrannte Gina, ihre Sommerferien als Krankenschwester zu verbringen.
Tante Joyce duldete weder, daß in ihrem Zimmer ein Fenster geöffnet wurde, noch daß die Vorhänge zurückgezogen werden durften. Sie lag in stickiger, heißer Luft und ewigem Dämmerlicht und jammerte ohne Unterlaß. Gina mußte sie jeden Tag am ganzen Körper mit einer widerlich süß
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