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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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nach ihrem Arm. »Natalie! Bitte, laß dir erklären...«
    Sie machte sich los. Für einen Augenblick erwachte in ihr die Bereitschaft, mit ihm zu reden und ihm vielleicht zu verzeihen, aber dann auf einmal zerriß der Nebel, der die ganze Zeit über ihr gelastet hatte, und Bild um Bild aus jener Nacht stieg in ihrer Erinnerung glasklar auf, und Angst und Schmerzen wurden gegenwärtig. Sie konnte ihm nicht verzeihen, nicht jetzt und womöglich nie.
    Sie verließ den Gerichtssaal, die letzten Schritte hinaus rannte sie, und sie drehte sich kein einziges Mal mehr um.
    6
    Natalie betete, die Lichter möchten nicht verlöschen. Sie war nicht sicher, ob sie die Dunkelheit würde aushalten können. Es wird ja nicht richtig dunkel, sagte sie sich, die Lichtorgel ist ja noch da und die Scheinwerfer.
    Es war drückend heiß in der Halle. Eine stillgelegte Fabrik am Stadtrand von Norwich, in der sich mehr als tausend Menschen versammelt hatten. Draußen ging ein Septembertag in glühenden Farben zu Ende, im Inneren der Halle stieg die Temperatur unterdessen auf vierzig Grad. Die Menschen, zumeist Jugendliche, standen aneinandergepreßt wie die Heringe, einer benetzt von dem Schweiß des anderen. Helles Neonlicht brannte entlang der Decke. Aber gleich würde es verlöschen, würden sich die Spots auf die Bühne richten, und dann sollte Billie Crime auftauchen, der neue Rockstar aus den USA und neues Idol der Jugend. Natalie konnte erwartungsvolles Entzücken auf den Gesichtern der meisten Mädchen entdecken. Sie fieberten »ihrem« Billie entgegen. Zweifellos hatten sie seit Wochen auf diesen Abend hingelebt.
    Und zweifellos, dachte Natalie, sind sie freiwillig hier.
    Sie selber war im Auftrag von Mr. Bush gekommen, um für »Limelight« einen Bericht über das Konzert zu schreiben. Da sie seit Crantock vor den meisten Dingen Angst hatte – vor Dunkelheit zum Beispiel, Menschenansammlungen und geschlossenen Räumen –, war ihr der Gedanke, hierher gehen zu müssen, schon Tage vorher ein Alptraum gewesen. Sie hatte autogenes Training gemacht und jeden Tag ihre neue Kassette gehört, auf der ihr eine tiefe, sanfte Männerstimme einzureden versuchte, sie sei ruhig, stark und zuversichtlich. Als sie in Norwich ankam, war sie so nervös, daß sie bei Rot auf eine Kreuzung fuhr und beinahe einen Unfall verursacht hätte. Im Hotel nahm sie ein Bad, aber eine Migräneattacke kündigte sich trotzdem an. Sie hatte früher nie Kopfschmerzen gehabt! Sie trocknete sich ab, föhnte ihre Haare und schlüpfte in ihre Jeans. Dazu trug sie ein
weißes Männerhemd, einen silbergefärbten Ledergürtel und ein paar Silberketten. Gegen Abend fühlte sie sich so miserabel, daß sie beschloß, das Konzert ausfallen zu lassen und eine Phantasiegeschichte zu schreiben – sie kannte die Musik von Billie Crime sowieso, und Veranstaltungen dieser Art liefen erfahrungsgemäß immer gleich ab. Es begann ihr bei dieser Idee gerade etwas besser zu gehen, da klingelte das Telefon. Es war Mr. Bush. Seine Stimme klang ganz fremd vor Aufregung. »Wir haben ein Interview mit Billie Crime! Natalie, ob Sie es glauben oder nicht, ich habe das tatsächlich arrangieren können. Gleich nach der Vorstellung sollen Sie in die Garderobe kommen. Aber seien Sie um Himmels willen pünktlich, eine halbe Minute Verspätung kann bei Billie Crime schon bedeuten, daß er es sich anders überlegt!« Mr. Bush kicherte nervös. »Wenn Sie das verpatzen, Natalie, können Sie sich den Strick nehmen, das ist Ihnen ja wohl klar.«
    Natalie lachte gezwungen und brach in Tränen aus, kaum hatte sie den Hörer aufgelegt. Nun mußte sie hingehen, das war klar, denn sie konnte es nicht riskieren, den Ausgang des Konzerts und ihre Chance bei Billie Crime zu verpassen. Sie nahm zwei Aspirin, wusch sich die tuschegefärbten Tränenspuren vom Gesicht und machte sich mit bleischweren Gliedern auf den Weg.
    Es kam genauso, wie sie es befürchtet hatte: Kaum ging das Licht aus, kaum zuckten die Spots von irgendwoher aus der Finsternis zur Bühne hinüber, wurde ihr schon schwindlig, und ihr einziger Gedanke war: Flucht! Als die Musik krachend einsetzte und ein .silberglitzernder Billie Crime über die Bühne fetzte, meinte sie, ihr Kopf müsse in tausend Stücke zerspringen. Vor ihren Augen flimmerte es. Im Saal hob ein gewaltiger Schrei aus tausend Kehlen an, ohrenbetäubend laut, durchdringend und anhaltend. Die Zuschauer fingen an zu toben, rissen die Arme hoch, klatschten und trampelten.

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