Schattenspiel
um Atem rang. Sie erklärte, das Furchtbarste, was sie sich denken könne, sei, lebendig begraben zu werden und zu spüren, wie die Erde ihren Mund füllen und ihr die Luft nehmen würde. Mary hingegen, die niemals schwimmen gelernt hatte, hegte eine tiefe Furcht vor dem Wasser, und sie wurde blaß bei dem bloßen Gedanken an ein Schiffsunglück.
Natalie als Einzige hatte nicht an Sterben gedacht, wenn sie sich das vollkommene Grauen vorstellte. »Lieber sterben als vergewaltigt werden. Alles, alles könnte ich eher ertragen als das!«
Es waren drei Männer bei ihr im Wohnzimmer und sie wechselten sich ab. Natalie lag auf dem Teppich, einer hielt ihre Hände über dem Kopf zusammen, der andere drückte ihre gespreizten Beine fest auf den Boden, der dritte vergewaltigte sie. Es tat höllisch weh, aber es gelang Natalie immer wieder, die Schreie, die sich in ihrer Kehle ballten, zu unterdrücken. Immer
dachte sie: Wenn sie es jetzt noch einmal tun, werde ich schreien. Ich schreie später. Beim nächsten Mal schreie ich!
Aber sie schrie kein einziges Mal, sie lag so starr und stumm wie vorher Maxine. An der gegenüberliegenden Wand konnte sie ein eingerahmtes Bild sehen, das Maxine und Duncan an ihrem Hochzeitstag zeigte. Duncan trug einen etwas zu eng sitzenden Anzug und lächelte verlegen, und Maxine hatte eine hochaufgetürmte Frisur und einen langen flatternden Tüllschleier. Sie sah sehr glücklich und verliebt aus. Das Bild prägte sich so nachdrücklich in Natalies Gedächtnis, daß sie noch Jahre danach in der Lage gewesen wäre, jedes einzelne Detail genau zu beschreiben. Warum hatten die beiden sterben müssen? Warum lagen sie jetzt oben im Schlafzimmer in ihrem Blut? Was geschah hier, wo war der Sinn? Weshalb mußte sie dieses Grauen erleben? Flüchtig fragte sie sich, ob sich wohl auch Ginas und Marys Alpträume erfüllen würden. Vielleicht ertrank Mary eines Tages, vielleicht wurde Gina lebendig begraben. Es gibt nichts, was so grauenhaft ist, daß Menschen es nicht tun.
Als die Sirenen der Polizeiautos ertönten und die Männer von ihr abließen, zog sich Natalie sofort in eine Ecke zwischen zwei Sessel zurück und sah daraus lauernd hervor wie ein sprungbereites Tier. Sie hatte keine Ahnung, daß sie sich die Lippen blutig gebissen hatte und daß ihr Blut über das Kinn lief. Sie hörte nachher, sie habe einen grauenhaften Anblick geboten, als man sie fand, und sie habe sich aus Leibeskräften gegen die Polizeibeamten gewehrt, die ihr auf die Beine helfen wollten. Sie bekam nicht mit, daß es einen Schußwechsel zwischen Polizisten und Einbrechern gab und daß einer der Täter dabei ums Leben kam. Später erklärte ein Polizeibeamter Natalie: »Diese Männer gehören einer kleinen fanatischen Gruppe an, die sich mit Teufelsaustreibungen und schwarzen Messen befaßt. Sie wissen schon – diese seltsamen Rituale in mondhellen Nächten an irgendwelchen alten Kirchenmauern...blutige Schafsherzen werden an die Pforte genagelt, die noch zuckenden Eingeweide der Opfertiere zusammen mit schrecklichen Kräutergebräuen verzehrt. Was unsere Verbrecher hier angeht, so behaupten sie, eine
Weisung empfangen zu haben, das Sündhafte dieser Welt zu vernichten, und die Verkörperung der Sünde sehen sie in der Weiblichkeit. Sie sind besessen von dem Gedanken, Frauen zu schänden und töten zu müssen. Verstehen Sie?«
»Warum«, fragte Natalie müde, »haben sie Duncan umgebracht?«
»Weil er sich ihnen in den Weg gestellt hat. Aber sie haben ihn einfach erschossen. Eine Frau würden sie nie erschießen, das wäre weder feierlich noch grausam genug.« Er sah Natalie eindringlich an. »Verstehen Sie?« fragte er wieder.
»Ja«, sagte sie, aber seine Worte drangen nur wie durch einen dichten Schleier zu ihr. Selbst die Gerichtsverhandlung, zu der sie als Zeugin erscheinen mußte, glitt wie ein fremder, ferner Traum an ihr vorüber. Einer ihrer Vergewaltiger spuckte ihr ins Gesicht, als sie an ihm vorüberging, aber auch das registrierte sie kaum. Es waren vier Wochen seit den Ereignissen in Crantock vergangen, und erst hier vor Gericht sah Natalie David wieder. Sie hatte seine Briefe – bis auf einen – ungeöffnet zurückgehen lassen, denn sie wollte seine Erklärungen, Entschuldigungen, Selbstvorwürfe nicht mehr lesen. Jedesmal, wenn er anrief, legte sie sofort den Telefonhörer auf. Er war nach King’s Lynn gekommen, um sie zu sehen, aber sie hatte die Tür nicht aufgemacht. Jetzt, im Gerichtssaal, griff er
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