Schattenspieler (German Edition)
Englisch
sprach, auch wenn sein russischer Akzent vor Wut jetzt
stärker durchkam. Und er spürte, dass der Leutnant hier gerade
nicht seine Männer verteidigte, sondern sich selbst, weil
er sich schämte – für deren Barbarei und vor allem dafür, dass
er nichts dagegen tun konnte. Umso besser, dachte Sommerbier.
Er wusste instinktiv: Gerade weil Golubew der Frau nicht
helfen konnte, würde er ihm behilflich sein.
»Bitte«, sagte er beschwichtigend. »Ich will Sie nicht belehren.
Ich möchte eigentlich nur nach Hause. Das werden Sie
doch verstehen.«
»Sie stellen sich das wohl ziemlich einfach vor«, sagte Golubew.
Er wollte ihn noch ein bisschen zappeln lassen. Sollte
er doch.
»Ich nehme an, ich bin nicht der erste britische Pilot, der
Ihnen auf dem Weg nach Berlin begegnet ist«, sagte er.
»Es gibt noch ein paar andere«, sagte Golubew vage. »Wir
schicken sie nach Odessa. Und da werden sie von der Royal
Navy eingesammelt und nach Hause gebracht.«
»Das ist aber ein ziemlicher Umweg«, sagte Sommerbier lächelnd.
Golubew zog ein paar Mal an seiner Zigarette. Mit dem
Rauch schien er auch seine Wut gegen die Decke zu pusten.
Schließlich sprach er weiter.
»Es gibt eine kleine Absprache zwischen General Tschuikow
und Feldmarschall Montgomery«, sagte er. »Ein paar handverlesene
britische Offiziere werden demnächst per Bus über die
Elbe gebracht. Dort nehmen Ihre Leute sie in Empfang und
bringen sie in ein Auffanglager bei Reims. Eine vertrauensbildende
Maßnahme.«
»Meinen Sie, wir beide könnten auch eine kleine Absprache
treffen?«, fragte Sommerbier und lächelte komplizenhaft. »Als
vertrauensbildende Maßnahme?«
»Ich glaube, nicht. Wie gesagt, die Leute sind handverlesen.« Golubew blickte ihn über den Tisch hinweg an, als sei
das noch nicht das letzte Wort.
»Soso. Handverlesen.«
Sommerbier schob den Ärmel seiner Lederjacke hoch und
löste das Armband der Fliegeruhr, die er Gardiner abgenommen
hatte. Ein Breitling-Chronograf, nagelneu.
»Handverlesen«, wiederholte er und schob die Uhr über
den Tisch.
Leo schielte zu Sirinow herüber, der völlig versunken dastand.
Der Oberst schien immer noch so mit der Musik beschäftigt
zu sein, dass Leo einen Augenblick lang glaubte, er hätte
gar nicht bemerkt, dass das Mädchen blind war. Wenn doch,
schien es ihn kein bisschen zu verwundern oder aber völlig
unwichtig zu sein. Und plötzlich streifte ihn ein merkwürdiger
Gedanke: War es nicht wirklich völlig unwichtig?
Das Mädchen stand jetzt auf und ging ohne ein Wort zur
Tür hinaus. Dort wo ihre Augen hätten sein sollen, waren die
Lider nach innen gewölbt und wirkten wie zugeklebt. Der
Kontrast zu der sanften Musik, deren letzte Töne Leo immer
noch in den Ohren klangen, war brutal. Ohne zu tasten, griff
sie nach dem Treppengeländer und schwebte nach unten. Ihr
Zopf wippte leicht, dann verschwand sie aus dem Blickfeld.
Im Türrahmen standen zwei Soldaten, die ihr mit offenem
Mund hinterherstarrten, als hätten sie ein Gespenst gesehen
oder einen Engel.
Sirinow lächelte und ließ seinen Blick versonnen durch das
Zimmer schweifen. »Das Haus war die richtige Wahl«, stellte
er fest.
»Sie ist blind«, sagte Leo, als hätte diese überflüssige Feststellung
irgendetwas mit dem Haus zu tun.
»Im Gegenteil«, gab Sirinow zurück. »Sie sieht so gut, dass
sie noch nicht einmal Augen dafür braucht.«
Dann ging er, immer noch lächelnd, hinaus und verschwand
ebenfalls im unteren Stock. Die beiden Soldaten folgten ihm
und Leo blieb allein im Zimmer. Er ließ sich auf den Klavierhocker
fallen und drehte sich hin und her. Das Jagdschloss
fiel ihm ein und wie er sich durch den Keller getastet hatte. In
was für einer Welt musste dieses Mädchen leben? Was wusste
sie vom Krieg, wie erlebte sie die Bombenangriffe? Er blickte
auf das Klavier. Es war von Bamberger & Sohn. Was für ein
Zufall, dachte Leo.
Eine Weile spazierte er in Gedanken mit seinem Vater durch
Bambergers Fabrik. Monteure bauten die Gehäuse zusammen,
setzten Gussrahmen, Tastatur und Anschlagmechanik ein und
spannten Saiten auf. Stimmer saßen in einem eigenen Raum
an den fertigen Klavieren und zogen mit zusammengekniffenen
Augen die Saiten nach. Das Durcheinander der an einem
Dutzend Instrumenten probeweise angeschlagenen Töne entwickelte
sich in seinen Ohren zu einer ganz eigenen Symphonie
seiner Kindheit. Versonnen schlug er einen Akkord an.
»Kannst du spielen?«, fragte plötzlich jemand.
Leo drehte sich auf dem
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