Schattenspieler (German Edition)
Hocker herum. Er fühlte sich ertappt.
Das war ja schließlich nicht sein Haus und nicht sein
Klavier.
Im Türrahmen stand ein Junge, etwa so alt wie er selbst. Er
blickte ihn eher neugierig als unfreundlich an und er kam Leo
bekannt vor. Im gleichen Augenblick schien auch der andere
ihn zu erkennen. Und da fiel es Leo wieder ein: die surreale
Begegnung in der Nacht seiner Flucht an der Spandauer
Straße.
»Ist die Welt doch nicht untergegangen?«, fragte Leo und
lächelte etwas schief.
»Meine jedenfalls nicht«, gab der andere zurück, stieß sich
vom Türrahmen ab und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin
Friedrich.«
»Leo.«
Als sie sich die Hand schüttelten, kam Leo sich auf einmal
sehr merkwürdig und gleichzeitig sehr erwachsen vor. Merkwürdig,
weil seit Jahren niemand auf ihn zugegangen war.
Erwachsen, weil er noch nie auf diese Art Bekanntschaften
geschlossen hatte: selbstständig, freiwillig, ohne Mahnungen
und ohne Vorbehalte. In diesem kurzen Moment wurde ihm
klar, in was für einer irrealen Situation er bisher gelebt hatte.
Was hier gerade passierte, war völlig normal.
»Ausgebombt?«, fragte Friedrich vorsichtig.
»Nein«, sagte Leo. Er wusste nicht, wie er weitermachen
sollte.
»Hör mal«, sagte Friedrich. »Falls du so etwas wie ein Deserteur
bist …«
»Bin ich nicht«, sagte Leo instinktiv. Sirinows Worte schossen
ihm durch den Kopf. Du brauchst keine Angst mehr zu
haben. Es ist vorbei . Er musste sich nicht mehr verstecken.
Friedrich schien ihn beruhigen zu wollen und wirkte gleichzeitig
selbst noch nicht ganz unbefangen. »Ich meine nur, falls
du einer wärst … Das wäre hier bei uns … also kein Problem.«
Er lachte unsicher.
»Bin ich nicht«, wiederholte Leo etwas ruhiger. »Die hätten
mich auch nicht genommen. Weil es mich seit zweieinhalb
Jahren nicht mehr gibt.«
In der folgenden Zeit wich die nervöse Anspannung, die vor
der Ankunft der Sieger alles beherrscht hatte, einer unwirklichen
Atmosphäre, die Friedrich nach kurzer Zeit schon wieder
normal erschien. Leo und er wurden Freunde, und nach
wenigen Tagen kam es Friedrich vor, als sei es nie anders gewesen.
Jetzt, wo er Leos Geschichte kannte, wurde ihm erst klar,
wie viel Glück er die ganzen Jahre über gehabt hatte: Während
er es bisweilen unerträglich gefunden hatte, untätig in dieser
Villa herumzusitzen, die ihm allen Komfort bot, hatte Leo
in einem dunklen Kellerloch gehockt, Hunger gelitten und
um sein Leben gefürchtet. Dann war er um Haaresbreite der
Deportation entgangen und hatte seine Eltern verloren. Leo
war nichts erspart geblieben. Friedrich dagegen hatte alles behalten
dürfen, was er besaß.
Sirinow hatte sich und seine Leute im Haus verteilt, und
weil es Räume genug gab, hatten seine Mutter, seine Schwester
und er ihre Zimmer behalten können. Und während die
Soldaten in der Nachbarschaft wilde Feste feierten, aus den
Wohnungen schleppten, was ihnen gefiel, und die Bewohner
misshandelten, schien um ihr Haus eine Art Schutzzone zu
liegen.
Leo, den die Russen nur Joschek nannten, genoss bei ihnen
einen merkwürdigen Status. Es kam vor, dass anderswo einquartierte
Soldaten vorbeikamen, um ihn zu besuchen, selbst
wenn sie sich mit ihm kaum verständigen konnten. Oft ließen
sie Geschenke da: meistens Lebensmittel und ab und zu auch
allerhand Nippes, den sie irgendwo hatten mitgehen lassen.
Sie blieben eine Weile, strichen Leo übers Haar, erzählten ihm
etwas in ihrer Sprache und radebrechten sich ein paar gute
Wünsche auf Deutsch zusammen, bevor sie wieder verschwanden.
Friedrich kam es manchmal vor, als hätten sie sich mit Leo
einen kleinen Heiligen ins Haus geholt, der Pilger mit ihren
Opfergaben anlockte.
Um den Stadtkern von Berlin wurde derweil weitergekämpft.
Das Knattern der Maschinengewehre und das Krachen
der Einschläge entfernten sich langsam. Bald war nur
noch ein schmaler Streifen zwischen Tiergarten und Regierungsviertel
in der Hand der Verteidiger. Gerüchte schwirrten
durch die Luft: Einmal war Hitler angeblich aus der Reichskanzlei
entkommen, dann wieder in Gefangenschaft geraten.
Und immer wieder hieß es, die Amerikaner hätten sich mit
der deutschen Regierung verständigt und stünden kurz vor
dem Abschluss eines separaten Friedens, in dessen Anschluss
sie gemeinsam über die Russen herfallen würden. Das alles
wurde teilweise von den sowjetischen Soldaten, teilweise von
den deutschen Nachbarn weitererzählt, während Sirinow sich
in Schweigen hüllte. Was für eine
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