Schattenspieler (German Edition)
Gänsehaut breitete sich über den Rücken aus.
»Das kann sonst wer gewesen sein«, sagte er, ohne ganz
überzeugt zu sein. »Vielleicht die Russen.«
»Nie und nimmer«, sagte Friedrich. »Warum sollten die sich
ausgerechnet in diesem Loch verkriechen? Außerdem lägen
dann auch Wodkaflaschen hier.« Er hob eine der Flaschen auf.
»Seit wann trinken die Russen Mineralwasser? Die putzen sich
doch sogar die Zähne mit Schnaps.«
»Aber das hilft uns auch nicht weiter«, sagte Leo. »Wer auch
immer hier war – er ist weg, und wir wissen nicht, ob er zurückkommen
wird.«
»Das sehe ich auch. Lass uns gehen. Ich brauche Tageslicht.«
Als der Eingang des Stollens endlich vor ihnen erschien,
atmeten beide auf.
»Das war wohl nichts«, sagte Friedrich enttäuscht, als sie
wieder auf dem Hof standen. »Vielleicht fällt Wilhelm ja noch
irgendwas ein«, tröstete ihn Leo.
Sie verließen das Firmengelände und traten auf die einsame
Straße. Als sie sich gerade zum Gehen wenden wollten, sah
Leo einen alten Mann in einem schweren Mantel auf sie zukommen.
Er war unsicher auf den Beinen und schlich leicht
gebückt, aber zielstrebig dahin. Leo und Friedrich tauschten
einen Blick.
Der Mann sah unrasiert und hohlwangig aus. Am Kinn
hatte er einen ziemlich ungepflegten Ziegenbart, der nicht zu
ihm passte. Er blieb direkt vor den beiden stehen.
»Best«, sagte er. »Wohnmöbel von Format.« Es klang wie
eine Feststellung. Wahrscheinlich ein alter Werbespruch.
»Kennen Sie die Firma?«, fragte Leo.
»Na sicher«, gab der Alte zurück. »Dreißig Jahre da malocht.
Bevor se mir in die Rente jebombt haben. Passte vom
Zeitpunkt aber jenau.« Er kicherte und zuckte mit dem Kopf.
»Können Sie sich an einen Herrn Sommerbier erinnern?«,
fragte Friedrich. Leo musste sich ein Lachen verbeißen. Friedrich.
Immer direkt aufs Ziel.
»Sommerbier, klar«, sagte der Alte. »War der Chef hier. 'n
Schnösel, wie er im Buche steht.«
Leo war wie elektrisiert. »Wissen Sie, wo dieser Sommerbier
jetzt ist?«, fragte er.
Der Alte grinste. »Bin ick Hellseher, oder was? Die Firma is
seit zwee Jahr'n dicht.«
Dann legte er die Stirn in Falten. Leo fühlte, wie Friedrich
nach seinem Arm griff.
»Aber der war vor 'n paar Wochen noch mal hier. Kurz bevor
die Russen kamen.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Ha' ick mir noch jewundert,
wa. Kam mit so 'n Lastwagen voller Steine und Mörtelsäcke.
Ha' ick mir jefragt, ob der jetzt janz alleene die Bude wieder
uffbauen will.«
Friedrich war in heller Aufregung; er sah aus, als hätte er
den Mann am liebsten gepackt und geschüttelt.
»Haben Sie ihn danach noch mal gesehen?«
»Weeß ick nüsch. Nee. Nur det eene Mal.«
Damit schien für ihn die Unterhaltung beendet zu sein. Er
murmelte etwas vor sich hin und schlurfte weiter die Straße
entlang.
»Ich glaub's nicht«, sagte Friedrich und packte Leo bei den
Schultern. »Sommerbier hat da was eingemauert! Komm, wir
müssen noch mal zurück!«
Leo war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, noch einmal
in den Stollen zu steigen. Aber das war jetzt egal. Sein Herz
schlug bis zum Hals.
Sie rannten zurück auf das Gelände. Der Stolleneingang
kam Leo plötzlich ganz anders vor, als hätte sich in dem gähnenden
Loch hinter der offenen Stahltür etwas verändert. Als
er sah, dass die Glühbirnen im Gang noch brannten, kam
ihm ein absurder Gedanke: Wir haben vergessen, das Licht
auszumachen.
Friedrich griff sich eine auf dem Boden liegende Eisenstange,
die vielleicht einmal dazu gedient hatte, die Stahltür
von innen zu verbarrikadieren.
Der Gang kam Leo fast schon vertraut vor. Er zählte die
Biegungen, während sie vorwärtshasteten. Nach dem sechsten
Knick trafen sie wieder auf die Wand. Und sofort sah er, worauf
er vorher nicht geachtet hatte: Etwas stimmte nicht mit
dem Beton. Der Abschluss des Ganges war nicht betoniert,
sondern nur verputzt.
Friedrich hatte offenbar genau die gleiche Beobachtung gemacht.
»Wir müssen die Wand aufstemmen!«, rief er entschlossen
und setzte die Eisenstange an.
Putzbrocken flogen in alle Richtungen. Dahinter kamen
Ziegel zum Vorschein, nachlässig vermörtelte Steine, die nun
unter den Hieben der Eisenstange splitterten.
Je länger Friedrich auf die Wand einschlug, desto klarer
wurde, dass der Gang hier nicht zu Ende war. Jemand hatte
das letzte Stück zugemauert.
Leo wollte Friedrich anbieten, ihn abzulösen, aber der hämmerte
wie ein Verrückter auf die Fugen zwischen den Ziegeln
ein, bis die sich
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