Schattenspieler (German Edition)
herausbrechen ließen. Friedrich trat der
Schweiß auf die Stirn, aber er schlug weiter auf die Wand ein,
stemmte, rammte und drosch, als hinge sein Leben davon ab.
Plötzlich roch Leo etwas, süß und faulig zugleich. Es war
ekelhaft. Und dann wusste er, was das für ein Gestank war.
So hatte es in der Stadt gerochen, wenn die Leichenbergungskommandos
die Toten aus den Trümmern zerrten, um sie
wegzubringen.
Friedrich hatte den Geruch auch bemerkt. Er ließ die Eisenstange
sinken und blickte zu Leo auf. In seinen Augen
leuchtete das Entsetzen. Er blickte durch das Loch, das er
gerade in die Wand geschlagen hatte. Im schwachen Licht
der Glühbirnen wurden Füße sichtbar, die in zerschlissenen
Schuhen steckten.
»Mein Gott«, sagte Friedrich nur und ließ sich zurücksinken.
Leo griff sich die Stange und hebelte noch ein paar Steine
aus der Mauer.
Und dann sahen sie es beide.
Hinter der Wand befand sich eine Art Kammer mit quadratischem
Grundriss, eben das letzte Stück des Ganges, drei
Meter breit und drei Meter tief. Auf dem Boden lagen zwei
Leichen. Ihre Füße zeigten in Richtung der aufgestemmten
Mauer, sodass Leo und Friedrich der Anblick ihrer Gesichter
– oder dessen, was von ihnen übrig war – erspart blieb.
Die Toten waren mit grauen Anzügen bekleidet, die auf den
mageren Knochen lagen wie lose Tücher.
Ansonsten war der Raum leer.
Als das Flugzeug sich sanft auf die Seite legte, erwachte Sommerbier
aus einem leichten, traumlosen Schlaf. Er blickte aus
dem kleinen runden Fenster nach unten. Über Berlin brach
der Abend herein. Sie überflogen gerade den Tiergarten – ein
riesiger graugrüner Teppich, durchzogen von einem Gewirr
aus Wegen und gesprenkelt mit dem Schrott, den die letzten
Kämpfe um die Hauptstadt übrig gelassen hatten. Der Landwehrkanal
zog sich als schwarzblaues Band durch die endlose
Wüste der Ruinen. Die meisten Brücken waren gesprengt und
ins Wasser gesunken. Die Tragfläche blitzte golden auf, als die
untergehende Sonne sie streifte.
Sie beschrieben im Sinkflug einen weiten Bogen über Berlin-
Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. Von oben
sah die Stadt aus wie ein unregelmäßiges Wabengitter, gebildet
aus den stehen gebliebenen Außenmauern der Häuser.
Auf den Straßen schlichen Lastwagen dahin. Menschen waren
als lockeres Gewimmel aus kleinen Punkten zu erkennen. Die
Ruinen warfen lange, gezackte Schatten in der Abendsonne.
Die schwach besetzte Maschine neigte sich weiter zur Seite
und sackte spürbar nach unten. Sommerbier schluckte und
es klickte in seinen Ohren. Die Häuser wurden größer und
schienen sich immer schneller unter ihnen zu bewegen. Dann
kam das Rollfeld des Flughafens Tempelhof in Sicht. Die letzten
Trümmerberge zogen vorbei. Ein paar Augenblicke später
setzten sie mit einem Rumpeln auf.
Als die Maschine ausgerollt hatte, griff Sommerbier sich den
Aktenkoffer, der zu seinen Füßen gestanden hatte, zwängte
sich an den unbesetzten Nachbarsitzen vorbei und ging zur
Kabinentür. Hinter ihm reihten sich die anderen Fluggäste
auf, blickten hierhin und dorthin. Die meisten von ihnen
waren Offiziere. Jeder schien in seine eigenen Gedanken versunken
zu sein.
Die Tür wurde entriegelt und schwang auf. Als Sommerbier
die steile Treppe hinabstieg, wehte der kühle Abendwind seine
leichte Schlaftrunkenheit weg. Er war wieder da, wo er hingehörte.
Und wo seine Beute auf ihn wartete.
Zunehmend beschwingt schritt er über den endlosen, betonierten
Platz. Das ockerfarbene Halbrund der Flughafenanlage
glühte schwach im Licht der untergehenden Sonne.
Mehrere silbrig glänzende Flugzeuge standen auf dem Rollfeld.
Ein paar Hundert Meter weiter empfing ein Spalier aus
amerikanischen Militärpolizisten eine Delegation, die aus
einer anderen Maschine stieg. Auf ein Kommando strafften
sich die Reihen.
Als er in das Meer aus Ruinen eintauchte, das sich nördlich
des Flughafens ins Unendliche erstreckte, fühlte er, wie seine
Kräfte zurückkehrten. Er beschleunigte seinen Schritt. In der
Blücherstraße wuselten die Menschen geschäftig aneinander
vorbei. Ein paar Jungen spielten Krieg mit Holzlatten, die sie
wie Gewehre hielten. Ein Mann ohne Beine kam ihm in einem
zum Dreirad umgebauten Rollstuhl entgegen, den er mit den
Armen über zwei lange Hebel antrieb.
»Könnt ihr es immer noch nicht lassen?«, rief der Mann den
Jungen zu, die vielleicht zehn oder elf Jahre alt waren. Seine
Stimme klang unendlich verbittert.
»Ratatatata!«, schrie einer der
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