Schattenspur
das Wasser, so tief, dass einige ins Wasser hingen und von den Fluten umspült wurden. Kia trat so dicht ans Ufer, wie es ging, ohne dass sie ins Wasser geriet und ihre Schuhe nass wu r den. Irgendwo hier musste es sein. Die Ausstrahlung, die sie spürte, zog sie zu einem der über dem Wasser hängenden Äste. Nach längerem Suchen en t deckte sie einen roten Faden, mit dem etwas auf den Ast gebunden war. Sie angelte den Ast heran. Daran hing der fleischlose Schädel einer Klappe r schlange, der offenbar von einem kapitalen Exemplar seiner Art stammte. Die Rassel, die auf dem Schädel befestigt war, wies so viele Ringe auf, dass das Tier recht alt gewesen sein musste; mindestens fünfzehn Jahre. Für eine Klapperschlange im Süden, wo man gezielt Jagd auf sie machte, ein respe k tables Alter. Kia hätte sich denken können, dass das Artefakt ein Schlange n schädel oder etwas anderes war, das von einer Schlange stammte. Damballah, der Schlangengott und einer der Mächtigsten unter den Loas, war ein erklä r ter Feind der Petro. Seine Macht, eingefangen in dem Schädel eines seiner Kinder, würde die von Louis brechen.
Sie lächelte zufrieden, band ihn los, wickelte ihn in den Baumwollbeutel, den sie mitgebracht hatte, und steckte ihn in ihre Gürteltasche. Für jeden Menschen, der nicht in die Geheimnisse der Ouanga eingeweiht war, wäre es nur ein ganz normaler Schlangenschädel. Eine Priesterin wie sie – oder j e mand wie Louis – würde seine Macht auf der Stelle erkennen. Genau das war das Problem. Louis durfte nicht zu früh bemerken, was sie vorhatte. Sie musste die Macht des Artefakts vor ihm verbergen. Und sie wusste auch schon, wie. Sie hatte alles, was sie dafür brauchte, in ihrer Reisetasche, sodass sie nicht noch einmal in ihre Wohnung oder den Laden ihrer Großmutter zurückkehren musste. Und einen passenden Stock konnte sie in der Natur finden. Da sie wusste, wo Louis sich heute Abend sein nächstes Opfer holen würde, musste sie nur rechtzeitig fertig werden und vor Ort sein, bevor er dort eintraf. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Und mit etwas Glück und vor allem, wenn die Loas ihr wohlgesinnt wären, würde Louis noch heute Abend am eigenen Leib erfahren, welche Folgen es hatte, wenn man sich den Petro angelobte und dann darin versagte, ihnen angemessen zu dienen. Die kannten nicht die mindeste Nachsicht mit Versagern.
Sie fuhr mit dem Bus z u rück. Als sie von der Haltestelle um die Ecke in die Jefferson Street einbog, blieb sie wie angewurzelt stehen. Aus der Tür des Hauses, in dem Charlie wohnte, kamen die beiden FBI-Agents. Sie gingen zu einem dunkelblauen Mietwagen, blieben auf der Straße stehen und sprachen miteinander über das Dach des Wagens hinweg, statt sofort einzusteigen.
Bei allen Göttern, wie hatten sie Charlie gefunden? Wie hatten sie wissen können oder auch nur vermuten können, dass Kia bei ihm untergeschlüpft war? Sie war hundertprozentig sicher, dass sie keine Spur hinterlassen hatte, die sie zu Charlie hätten verfolgen können. Von Charlie konnten sie wohl kaum etwas wollen, da er für alle Leute aus dem Umfeld ihrer Großmutter, die ihn kannten, nichts anderes war, als ein sporadischer Kunde, der bei ihr Tee kaufte. Nein, die mussten irgendwie herausgefunden haben, dass Kia zu Charlie gegangen war.
Sie überwand ihren Schock. Bloß weg von hier, bevor einer von denen sie entdeckte.
In diesem Moment wandte Agent Scott den Kopf und sah sie direkt an.
Kia drehte sich um und rannte.
*
Wayne empfand die Enttäuschung wie ein kaltes Stück Stahl, das ihm in den Körper getrieben wurde; irgendwo dort, wo das Herz sitzt. Er schalt sich einen Narren. Er hätte schließlich damit rechnen müssen, dass Joy nicht d a rauf warten würde, dass er heute mit Travis und Officer Samuels kam und sie offiziell befragte. Das hätte er an ihrer Stelle auch nicht getan. Aber er hatte so sehr gehofft, dass sie sich ihm anvertrauen und seine Hilfe akzeptieren würde, dass er ihre Flucht als eine persönliche Zurückweisung empfand. Irrationalerweise und völlig idiotisch, aber so fühlte es sich für ihn an.
Er war mit Travis und Samuels zu Joys Wohnung gefahren. Ihr Wagen stand vor der Tür – Samuels kannte ihn – aber sie war nicht da. Ihre Hau s meisterin, eine verwitwete Mrs. Ferris, hatte sie gestern gesehen, ungefähr eine halbe Stunde, nachdem Wayne gegangen war, wie sie mit einer Reiset a sche das Haus verlassen hatte und in ein Taxi gestiegen, aber nicht
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