Schattenstürmer
nicht.«
»Aber …«
»Garrett, all dies liegt mehr als sechshundert Jahre und viele Generationen zurück. Ich weiß es nicht mehr!«
»Ja, verstehe … und ihr habt wirklich nicht gewusst, dass er Opfer einer Intrige geworden ist?«
»Kennst du diese Wendung: Der Zorn benebelt den Verstand? Ihr Menschen sucht immer … äh, wie nennt ihr es … einen Sündenbock. Damals habt ihr Jok gefunden. Warum hättet ihr dann weitersuchen sollen? Ihr hattet die Wahl: Entweder sucht ihr den wahren Mörder und geht das Risiko ein, dass es zum Krieg kommt, wenn ihr ihn nicht findet, oder ihr überlasst uns ein Menschenleben und vergesst das Ganze. Der damalige König hat sich sehr weise verhalten, einen Sündenbock gefunden und den Pfeil und das Geständnis vorgelegt, auch wenn das unter der Folter erpresst worden war. Ja, er hat sogar Zeugen aufzubringen gewusst. Meine Vorfahren haben sich ebenfalls nichts vorzuwerfen. Kummer und Wut hatten ihren Verstand getrübt. Wir wollten uns für den Mord am Prinzen rächen, auch wenn es einen Unschuldigen traf. Wir haben versucht, ihn zu verhören – und auch wir kennen die Folter. Er hat alles zugegeben, nur damit er nicht geschlagen wird. Erst drei Monate später haben wir herausgefunden, dass er nicht der Schütze war und sich während des Mordes ganz woanders aufgehalten hatte.«
»Warum wissen dann heute eigentlich alle, dass Jok unschuldig ist?«
»Er hat gestanden. Von sich aus. Er ist hingegangen und hat berichtet, wie es sich eigentlich verhielt, wo er sich versteckt hatte und wie er geschossen hat. Das Einzige, was er nicht gesagt hat, war, warum er es getan hat.«
»Er?«
»Der wahre Mörder.«
»Hielt ihn denn niemand für einen Verrückten, der sonst nichts zu tun hatte?«
»Woher soll ich das wissen, Garrett? Die Menschen haben diesem Schützen auf alle Fälle geglaubt.«
»Aber da war es schon zu spät. Jok war zu diesem Zeitpunkt schon tot.«
Ell zuckte die Achseln. »Ein Menschenleben mehr oder weniger, was spielt das schon für eine Rolle?«
»Da irrst du dich«, widersprach ich leise. »Dieser Fehler hat schreckliche Folgen gehabt.«
»Ach ja?« Er sah mich an. »Dann öffne einem Dummen mal die Augen!«
»Was hat das heute noch für eine Bedeutung?«
Der Elf nickte. Er vergaß unser Gespräch sofort. Im Gegensatz zu mir. Bei mir fügte sich nun der Traum zum Wissen. Und ich hoffte inständig, dass dieses Wissen nie von Bedeutung sein würde.
An diesem Tag schickte Mylord Alistan erstmals Späher aus. Aal und Marmotte ritten weit rechts und links von uns, um nach einer möglichen Gefahr Ausschau zu halten. Bislang war alles ruhig geblieben. Von mir aus hätte es auch gern so bleiben können, bis wir Hrad Spine erreicht hatten – aber alles Gute hat bekanntlich sein Ende. Nach dem Mittag kehrte Marmotte zurück und berichtete, eine bewaffnete Einheit bewege sich auf uns zu.
»Etwa hundert, hundertzwanzig Reiter, vielleicht auch etwas mehr«, setzte er Mylord Alistan ins Bild. »Alle sind bewaffnet und tragen Rüstung. Sie sind gut eine halb League von hier entfernt.«
»Balistan Pargaides Leute?«
»Sah nicht so aus. Aber ich kann mich auch täuschen, denn die Entfernung war sehr groß.«
»Haben sie dich gesehen?«
»Wollt Ihr mich beleidigen, Mylord?«, entgegnete Marmotte. »Wenn wir uns sputen, können wir einer Begegnung vermutlich noch aus dem Weg gehen.«
»Ich glaube nicht, dass uns das gelingen wird.« Ell zeigte auf einen Reiter, der am Horizont auftauchte. Der Mann bemerkte uns, wendete sein Pferd und sprengte im Galopp zurück. »Sie sind sich auch nicht zu schade, Späher einzusetzen.«
»Es wird sich ja noch zeigen, wer das Nachsehen hat.« Deler griff nach seiner Streitaxt.
»Du wirst schon noch zum Kämpfen kommen«, zügelte Met den Zwerg. »Und jetzt will ich keinen Ton mehr hören. Das gilt vor allem für dich, Hallas.«
»Ja, ja.« Hallas klopfte seine Pfeife aus und steckte sie in die Satteltasche. »Ich schweige wie ein Grab.«
Aal kam zurück. Er hatte mehr in Erfahrung bringen können als Marmotte. »Das ist mit Sicherheit nicht Pargaide. Es sei denn, er will uns an der Nase herumführen. Die haben zwei Banner, ein grünes mit einer schwarzen Wolke und Blitzen sowie ein gelbes mit einer Stahlfaust in einer Flamme.«
»Das erste sagt mir nichts, das muss irgendeinem kleinen Landbesitzer gehören. Aber das zweite kenne ich. Das ist das Banner des Grafen Algert Dally, des Statthalters an der Westgrenze«, erklärte
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