Schattenstürmer
nicht bemerkt, dass wir die Mauer schon ganz erklommen hatten. Sie war breit, auf ihr konnten bequem drei Soldaten nebeneinander gehen. Hier gab es nichts als riesige Zinnen, Schießscharten, den blauen Himmel und den Wind, der uns mit aller Wucht in den Rücken schlug. Ich stellte mir vor, wie es wohl im Winter oder während eines Sturms hier oben sein musste. Triumphator kroch aus meinem Ausschnitt und setzte sich mir auf die Schulter.
»Und was wolltest du mir zeigen?« Doch wohl nicht die Katapulte, ein paar Bogenschützen, die Wache schoben, oder den Handwerker, der die Mauer an einer Stelle ausbesserte?
»Du guckst in die falsche Richtung, du Dummkopf!« Kli-Kli stieß mich zu einer Schießscharte. »Da!«
Das Schloss stand auf einer Anhöhe. Von hier oben aus eröffnete sich eine fabelhafte Aussicht. Hinter den Festungswällen, den drei Gräben und einem kleinen Fluss mit schwacher Strömung erstreckte sich über dreihundert Yard ein Feld, das mit spärlichen Büschen bewachsen war. Dann kam der Wald. Sagraba.
Eine gewaltige Baumwand, majestätisch und herrlich, blickte vom anderen Ufer des Flusses zu mir herüber. Der Wald, der fast so groß wie Vagliostrien war. Über Tausende von Leagues zog er sich dahin. In diesen Wäldern waren zu Anbeginn der Zeiten die Götter gewandelt, dieses Königreich hatte bereits im Dunklen Zeitalter bestanden, in jener Epoche, da noch niemand je von Orks und Elfen gehört hatte. Die geheimnisvollen, sagenumwobenen, betörenden, zauberischen und zugleich heimtückischen, schrecklichen und grausamen Wälder Sagrabas. Wie viele Legenden, wie viele Mythen, Geschichten, Rätsel und Geheimnisse verbargen die grünen Zweige dieses Waldlandes? Wie viele mirakulöse, wundersame und gefährliche Tiere streiften über seine schmalen Pfade hinweg?
In Sagraba lagen die herrlichen Städte der Elfen und Orks, das legendäre Grüntann und das nicht minder legendäre Labyrinth, verschüttete Idole und verlassene Tempel untergegangener Rassen, die Überreste von Städten der Oger, so alt wie die Zeit selbst, und natürlich jenes Wunder, jener Schrecken aller Nordlande: Hrad Spine.
»Meine Heimat«, hauchte Kli-Kli. »Riechst du das?«
Ich atmete tief ein. Es roch nach Frische, nach Wald und Honig, nach Eichenblättern, die in den Händen zerrieben worden waren. »Ja.«
»Die Wälder sind wunderschön, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich ehrlich.
Der gewaltige grüne Teppich dehnte sich bis zum Horizont, wo er im abendlichem Nebel verschwand. Sagraba schien kein Ende zu nehmen. Ich kniff die Augen zusammen, und einen Augenblick lang meinte ich, im bläulichen Nebel die majestätischen Gipfel des Zwergengebirges auszumachen, die sich in den Himmel bohrten. Natürlich täuschte ich mich da, bis zu den großen Bergen waren es Hunderte von Leagues, von hier aus konnte man sie nicht sehen.
»Warum heißt dieser Wald Goldener Wald?«, fragte ich Kli-Kli, der förmlich in die Schießscharte hineinkroch.
»In ihm wächst die Goldbirke«, antwortete Kli-Kli.
»Es dämmert schon. Lass uns wieder runterklettern.« Ich warf einen letzten Blick auf den Wald. »Ich will mir dabei nicht die Beine brechen.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sich die Dämmerung ans Schloss geschlichen hatte. Im Schlosshof brannten Fackeln, ich sah nur wenige Menschen, die Körper der Toten waren bereits abgeladen und fortgebracht worden. Weder Aal noch Alistan oder Miralissa konnte ich entdecken.
»Wo sollen wir die anderen denn jetzt finden? Ich will schließlich nicht wie ein Dummkopf durch dieses Schloss irren!«
»Wir werden uns schon etwas einfallen lassen«, beruhigte mich Kli-Kli.
»Meister Garrett, Meister …« Eine kurze Pause. »… Kli-Kli?«
Ein alter Mann in weiter Kutte kam auf uns zu.
»Völlig richtig.«
Der Alte stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Folgt mir, Ihr werdet erwartet.«
Der Alte schlurfte zu einem der Türme, führte uns durch eine lange Halle, an deren Wänden Waffen hingen, und nahm dann eine schmale Wendeltreppe. Wir kamen in die Banketthalle, in der sich bereits die Wilden Herzen, Mylord Alistan und Egrassa versammelt hatten.
»Wo ist Mumr?« Kli-Kli setzte sich auf eine Bank und zog einen Teller zu sich heran.
»Er schläft, ihm geht es gar nicht gut«, grummelte Hallas, der sich gerade ein Stück Wurst in den Mund stopfte.
»Was fehlt ihm denn?«
»Er hat ein wenig Fieber.« Aal nippte am Bier. »Ein paar Tage, und er ist wieder auf dem Posten. Ich mache mir
Weitere Kostenlose Bücher