Schattenstunde
der Basketballmannschaft. Der ist noch größer als Derek, aber er probiert es immer bei den ganz winzigen Mädchen so wie dir.«
Ich nahm ihr das nächste Foto ab. »Das ist es nicht. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
Sie öffnete den Mund, und ich spürte einen kurzen Stich der Gereiztheit. Warum wird es eigentlich immer auf diese Art verniedlicht, wenn ein Mädchen sagt, dass ein Typ ihr auf die Nerven geht?
Oh, er mag dich einfach.
Als ob damit alles in Ordnung wäre.
Rae sah meinen Gesichtsausdruck, schloss ihren Mund und nahm das nächste Bild von der Wand.
Ich erklärte: »Er ist mir unheimlich, und ich will sehen, was seine Akte dazu zu sagen hat. Ob es einen Grund gibt, warum er mir unheimlich sein
sollte
. Ob er, weißt du, irgendein Problem hat.«
»Intelligent. Und es tut mir leid. Wenn er dir Angst macht, dann ist das ernst. Ich wollte keine blöden Witze machen. Wir sehen uns das heute Nacht an.«
15
U m neun Uhr abends wurde in Lyle House ins Bett gegangen, die Licht-aus-und-Ruhe-Vorschrift trat eine Stunde später in Kraft, wenn auch die Schwestern sich zurückzogen.
Auf jeder Seite des ersten Stocks gab es ein Zimmer für die zuständige Schwester. Liz hatte gesagt, es gebe keine Verbindungstür zwischen der Jungen- und der Mädchenhälfte des Hauses. Aber Rae zufolge gab es doch eine zwischen den Schwesternzimmern, die ihnen erlaubte, im Notfall schnell in jedes Zimmer des Obergeschosses zu gelangen.
Und so konnte Rae zwar schwören, Mrs. Talbot schliefe schnell ein und schliefe fest, aber wir mussten auch Miss Van Dop einkalkulieren. Ein früher Einbruchsversuch war zu riskant. Rae stellte den Weckalarm an ihrer Sportarmbanduhr auf halb drei, und wir gingen schlafen.
Um 2:30 Uhr war das Haus still und tot. Zu still und tot. Jedes knarrende Dielenbrett hörte sich an wie ein Gewehrschuss. Und in alten Häusern knarrt fast jedes Dielenbrett.
Rae folgte mir in die Küche, wo wir zwei Saftpackungen aus dem Kühlschrank nahmen und auf der Anrichte abstellten. Dann öffnete ich die Speisekammertür, schaltete drinnen das Licht ein und kehrte in den Flur zurück, wobei ich beide Türen halb offen ließ.
Dr. Gills Sprechzimmer lag auf der Westseite des Hauses in der Nähe der Treppe, die zu den Jungenschlafzimmern hinaufführte. Rae hatte sich das Schloss bereits vor einer Woche angesehen. Es war ein ganz normales Schloss für einen gewöhnlichen Schlüssel, nicht viel problematischer als die Sorte, die man mit einer Münze öffnen konnte. Sagte Rae. Ich hatte noch nie Anlass gehabt, ein Schloss zu öffnen – wahrscheinlich weil ich keine Geschwister hatte. Also sah ich zu und machte mir im Geist Notizen. Das gehörte alles in die Abteilung
Lebenserfahrung sammeln
.
Rae hatte einmal beobachtet, wie Dr. Gill während einer Therapiesitzung ihre Akte herausgeholt hatte, und wusste seither, wo sie aufbewahrt wurden. In dem Büro gab es einen kombinierten Drucker und Kopierer, was die Sache einfacher machte. Ich stand Schmiere. Das einzige Problem war, dass das Gerät, als Rae die Blätter kopierte, laut genug vor sich hin surrte, um uns nervös werden zu lassen. Aber die Akten mussten kurz gewesen sein, denn als ich ins Zimmer sah, war Rae bereits dabei, sie wieder in den Ordner einzuheften.
Sie gab mir zwei zusammengefaltete Blätter und legte den Ordner wieder in seine Schublade. Wir zogen uns leise aus dem Raum zurück. Als Rae abschloss, ließ das unverkennbare Geräusch eines knarrenden Dielenbretts uns beide erstarren. Ein langer Moment des Schweigens. Dann wieder ein Knarren. Jemand kam die Treppe der Jungenhälfte hinunter.
Wir flüchteten, barfuß den Gang entlang. Als wir die halb offene Küchentür erreichten, drückten wir uns hinein und rannten weiter in die offene Speisekammer.
»Mach schon«, zischte ich in einem Bühnenflüstern. »Nimm halt irgendwas.«
»Ich seh die Rice-Krispies-Riegel nicht. Ich weiß, dass letzte Woche noch welche da waren.«
»Wahrscheinlich haben die Jungs …«, ich unterbrach mich und zischte dann: »Da kommt jemand. Mach das Licht aus!«
Sie legte den Schalter um, während ich die Tür bis auf einen Spalt schloss. Als ich durch die Lücke spähte, erschien Derek in der Küchentür. Er schaltete das Licht nicht an und sah sich um. Das Mondlicht warf durch das Fenster einen matten Schein über sein Gesicht. Sein Blick glitt durch die Küche und blieb dann auf der Speisekammertür liegen.
Ich stieß die Tür auf und kam
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