Schattenstunde
Schritt zu verstecken, presste ich die Beine zusammen. Die Stelle am Hinterkopf, wo mich Toris Schlag getroffen hatte, pochte. Ich kämpfte um Worte und hoffte, Derek würde mir zu Hilfe kommen. Er tat nichts dergleichen. Eine Rettungsaktion pro Tag war wohl die Obergrenze gewesen.
»Ich hab die Wäsche gemacht, und D-Derek ist nach unten gekommen, weil er nach …«
Dr. Gill erschien im Raum. Mein Blick flog sofort zu ihr hinüber.
»Sprich weiter, Chloe.«
»E-er wollte sein T-Shirt holen. I-ich hab nach Fleckenentferner gefragt, weil ich keinen gefunden habe, und ich hab diese Tür aufgemacht, weil ich reinsehen wollte, und Derek hat gesagt, die wäre eigentlich immer abgeschlossen. W-wir haben die Leiter und den Kriechkeller gefunden, und dann waren wir einfach neugierig.«
»Oh, ich möchte wetten, ihr wart neugierig«, sagte Dr. Gill, während sie ihre Arme verschränkte. »In eurem Alter ist man ziemlich neugierig, stimmt’s?«
»I-ich nehm’s an. Wir haben einfach wissen wollen …«
»Ich bin mir ganz sicher, dass ihr’s wissen wolltet«, unterbrach Dr. Gill.
Woraufhin mir klar wurde, was sie glaubte, dass Derek und ich getan hatten.
Noch während ich es abstritt, ging mir auf, dass sie uns eine makellose Ausrede geliefert hatte. Hätte ich einfach verlegen den Blick gesenkt und gesagt »Tja, jetzt haben Sie uns erwischt«, hätten sie ihre Erklärung gehabt, ohne dass sie sich den Kriechkeller näher ansehen und am Ende die hastig verscharrten Leichen entdecken würden.
Wäre es Simon gewesen, hätte ich es ohne zu zögern getan. Aber Derek? Eine so gute Lügnerin war ich einfach nicht.
Es änderte aber nicht das Geringste. Je mehr ich es abstritt, desto sicherer waren sie sich, dass wir herumgemacht hatten. Dr. Gill hatte ihre Schlüsse längst gezogen. Wenn man einen Jungen und ein Mädchen im Teenageralter an einem dunklen, abgeschirmten Ort findet, braucht man sich dann wirklich noch zu fragen, was sie dort getrieben haben?
Selbst Mrs. Talbot schien überzeugt zu sein. Ihr Mund war missbilligend zusammengekniffen, während ich weiterfaselte.
Und Derek? Der sagte kein einziges Wort.
Als sie uns schließlich gehen ließen, rannte ich nach oben, um eine andere Jeans anzuziehen, bevor irgendjemand die nasse Stelle bemerkte. Als ich meinen Schädel überprüfte, fand ich zwei Beulen, eine von Tori verursacht und eine von dem Stützpfeiler.
Wieder im Erdgeschoss angekommen, zeigte ich Dr. Gill die kleinere der beiden Beulen und hoffte, dadurch meine Geschichte, dass wir uns nur umgesehen hatten, untermauern zu können: Sehen Sie, ich hab mir sogar den Kopf gestoßen. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, gab mir eine Tylenoltablette und schlug vor, ich sollte mich im Medienzimmer hinlegen. Tante Lauren war bereits unterwegs.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Chloe.«
Tante Laurens Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Dies waren die ersten Worte, die sie zu mir gesagt hatte, seit sie in Lyle House eingetroffen war. Zuvor hatte ich gehört, wie sie mit Dr. Gill und den Schwestern gestritten und eine Erklärung dafür verlangt hatte, warum sie nicht dafür gesorgt hatten, dass Derek, so wie man es ihr versprochen hatte, sich von mir fernhielt. Jetzt war ihr Ärger verflogen.
Wir saßen allein in Dr. Gills Sprechzimmer. Genau so, wie Tori und ihre Mutter hier gesessen hatten. Ich wusste zwar, dass diese Unterredung nicht mit Drohungen und blauen Flecken enden würde, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass ich mich hinterher auch nicht besser fühlen würde, als Tori es getan haben musste.
Tante Lauren saß kerzengerade da, die Hände im Schoß, während ihre Finger an ihrem Smaragdring herumdrehten.
»Ich weiß, dass du fünfzehn bist. Auch wenn du noch nie wirklich mit jemandem zusammen warst, du bist neugierig. Und an einem Ort wie diesem, isoliert von deinen Freunden und Angehörigen, in Gesellschaft von Jungen … die Versuchung, ein bisschen zu experimentieren …«
»So war das aber nicht. Es war
überhaupt
nicht so.« Ich drehte mich zu ihr herum. »Wir haben den Kriechkeller gefunden, und Derek wollte sich ihn näher ansehen, und ich habe gedacht, das wird cool.«
»Also bist du ihm dort hinein gefolgt? Nach dem, was er dir schon angetan hatte?« Sie verstummte, und die Enttäuschung in ihrem Blick wurde zu Entsetzen. »Oh, Chloe, ich kann es einfach nicht glauben. Hast du gedacht, wenn er dich terrorisiert und dir weh tut, bedeutet das, dass er dich
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