Schattenstunde
meine zitternden Finger konnten immer noch keine lose Kante finden. Ich gab es wieder auf, kroch weiter, so schnell ich konnte, bis das Pochen und Klicken und wütende Zischen zu verklingen begann.
»Chloe! Halt!« Ein dunkler Schatten ragte über mir auf, kaum erhellt von einem trüben Licht. »Es …«
Ich trat zu, so kräftig ich konnte. Ein scharfes Zischen und ein Fluch.
»Chloe!«
Finger schlossen sich um meinen Arm. Ich holte aus. Eine zweite Hand packte auch diesen Arm und riss mich zur Seite.
»Chloe, ich bin’s, Derek.«
Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tat. Es kann sein, dass ich in seinen Armen zusammenbrach. Wenn das der Fall war, ziehe ich es vor, mich nicht daran zu erinnern. Dagegen erinnere ich mich daran, dass der Knebel heruntergerissen wurde, dass ich das fürchterliche Klopfgeräusch wieder hörte und mich aufrappelte.
»D-d-da sind …«
»Tote Leute, ich weiß. Sie müssen hier unten begraben gewesen sein. Du hast sie aus Versehen beschworen.«
»B-b-beschworen?«
»Später. Im Moment musst du …«
Das Klopfen wiederholte sich, und ich konnte sie sehen – in meiner Vorstellung jedenfalls –, wie sie ihre schlaffen Körper vorwärtszerrten. Das Rascheln ihrer Kleider und des toten Fleischs. Das Klappern und Klicken der Knochen. Die Geister, die in ihnen gefangen waren. Gefangen in den Leichen …
»Chloe, hierbleiben!«
Derek packte mich an den Unterarmen, hielt mich ruhig, zog mich dicht genug an sich heran, dass ich das weiße Aufblitzen seiner Zähne sehen konnte, als er redete. Hinter ihm sah ich das schwache Licht, das ich zuvor schon bemerkt hatte. Die Luke stand offen und ließ eben genug Licht ein, dass ich Umrisse erkennen konnte.
»Sie werden dir nichts tun. Das sind keine hirnfressenden Filmzombies, okay? Es sind einfach nur tote Körper, in die die Geister zurückgerufen wurden.«
Einfach tote Körper? In die die Geister zurückgerufen worden waren? Ich hatte Menschen – Geister – in ihre Leichen zurückgeholt? Ich stellte mir vor, wie das sein musste, zurückgezwungen in den verwesenden Körper und dort eingesperrt …«
»Ich-ich-ich muss sie wieder zurückschicken.«
»Yeah, darauf läuft es wohl in etwa raus.«
Hörbare Nervosität milderte den Sarkasmus der Antwort, und als ich aufhörte zu zittern, spürte ich, wie die Anspannung in ihm pochte, in den Händen vibrierte, mit denen er meine Arme umklammerte, und ich wusste, dass er sich selbst zusammenreißen musste, um ruhig zu bleiben. Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht.
»O-okay, wie schicke ich sie also zurück?«
Schweigen. Ich sah auf.
»Derek?«
»Ich … ich weiß nicht.« Er schüttelte sich, ließ die Schultern kreisen, und seine Stimme klang wieder barsch. »Du hast sie gerufen, Chloe. Was du auch getan hast, mach es rückgängig. Dreh’s um.«
»Ich hab sie nicht …«
»
Versuch
’s einfach.«
Ich schloss die Augen. »Geht zurück. Geht zurück in euer Jenseits. Ich gebe euch frei.«
Ich wiederholte die Worte, konzentrierte mich so sehr, dass ich spürte, wie der Schweiß mir übers Gesicht rann. Aber das Pochen kam näher. Und näher. Und näher.
Ich schloss die Augen wieder und entwarf einen Film, in der Hauptrolle eine törichte junge Nekromantin, die Geister zurück in die Unterwelt schicken muss. Ich zwang mich dazu, mir die Leichen vorzustellen. Ich sah mich selbst, wie ich ihnen zurief, dass ich sie von ihren irdischen Fesseln befreite. Ich stellte mir vor, wie sie sich aus ihnen lösten …
»Hilf. Hilf.«
Die Kehle wurde mir trocken. Die Stimme war unmittelbar hinter mir. Ich öffnete die Augen.
Derek stieß einen Fluch aus, und seine Hände schlossen sich fester um meine Unterarme.
»Lass die Augen zu, Chloe. Behalt einfach im Gedächtnis, sie werden dir nichts tun.«
Ein knochiger Finger berührte mich am Ellbogen. Ich fuhr zusammen.
»Schon okay, Chloe. Ich bin da. Mach einfach weiter.«
Ich zwang mich stillzuhalten, als die Fingerspitzen in meinen Arm piekten, dann an ihm entlangglitten und streichelten, prüften, tasteten. Knochen schabten über meine Haut. Ein raschelndes Klappern, als die Leiche sich näherzerrte. Der Gestank …
Stell dir ein Bild vor.
Tu ich doch!
Nicht so!
Ich schloss wieder die Augen – was nichts änderte, denn mit offenen Augen sah ich genauso wenig, aber ich fühlte mich besser so. Die Finger krochen weiter, tasteten über meinen Rücken, zupften an meinem T-Shirt. Die Leiche
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