Schattensturm
brauchen. Die Frage ist, ob er den
Clan
weiterhin brauchen wird. Er ist schwer enttäuscht von uns. Ich habe Ihnen ja von dem Vorfall in Trondheim erzählt. Er hat auch herausgefunden, dass ich viel zu lange übersehen habe, dass manche Hexer ihre Aura tarnen können.«
Sie nickte aufmerksam. »Hältst du ihn mittlerweile für eine Gefahr?«
Mickey riss die Augen erschrocken auf. »Aber, Prinzessin, es liegt nicht an mir, solche Urteile zu fällen!«
»Wenn es nicht an dir läge, würde ich dich nicht fragen!«
Ihr etwas genervter Tonfall ließ ihn erneut zusammenzucken. »Sehr wohl, meine … Sehr wohl.« Er dachte kurz nach. »Es ist seine Unberechenbarkeit«, meinte er schließlich. »Niemand weiß, was er als Nächstes tun wird, nicht einmal Lord Rushai. Und er verachtet uns. Das ist deshalb gefährlich, weil er damit ein Vorbild für den gesamten Jungschwarm wird. Sogar Rushai lässt sich immer mehr von seiner Arroganz gegenüber dem Clan anstecken. Ich fürchte –«, es fiel ihm schwer, es auszusprechen, »ja, er ist eine Gefahr. Ich habe Angst um Ihre Sicherheit.«
»Ich verstehe«, grübelte die Queen. »Aber was sollen wir tun?«
Mickey schüttelte den Kopf. Er hatte keinen blassen Schimmer.
»Wir brauchen dringend eine neue Queen«, beschloss sie zu seiner Bestürzung. »Eine Queen, von der die Schatten nichts wissen. Eine Queen, die im Verborgenen bleibt, die nicht gebunden und bedroht werden kann. Wenn du auch nur eine klitzekleine Andeutung davon hörst, dass eine neue Queen gefunden sein könnte, musst du alles in Bewegung setzen, um zum einen diese Queen zu finden, und zum anderen, die Nachricht darüber unter Verschluss zu halten, verstehst du?«
»Ich verstehe.« Mickey verbeugte sich.
»Gut so. Was liegt dir sonst noch auf dem Herzen?«
»Lord Tanash.«
»Wer ist das?«
»Der Schattenlord von Hamburg. Er ist der Schatten, der uns Akabels Menschentransporte abgeworben hat. Lord Ashkaruna ist misstrauisch, was Tanash vorhat, und schickt mich, um mehr darüber herauszufinden.«
»Er schickt dich nach Deutschland?« Die Queen riss bestürzt die Augen auf.
Mickey nickte.
Sie seufzte besorgt. »Deutschland ist ein gefährliches Land, mit starken Lords und noch stärkeren Clans. Manche Gegenden sind schon seit Jahrzehnten der Kontrolle der Hexer entrissen. Unterschätzenicht die Rivalität der Schatten, Mickey. Dein Leben ist in Gefahr, wenn du dort hingehst.«
»Ich weiß. Aber was kann ich tun? Er hat mich dorthin befohlen, und ich muss gehen.«
Die Queen nickte traurig. »Du musst gehen«, stimmte sie ihm zu. »Aber du musst auch auf dich achtgeben. Dein Leben ist wichtiger, als du glaubst.«
KEELIN
Harburg bei Hamburg, Deutschland
Freitag, 10. September 1999
Die Innenwelt
Eine Möwe krächzte, laut und ganz nahe. Roter Sonnenschein schimmerte durch Keelins Augenlider. Ihre Kleider waren durchnässt und eisig kalt. Ihr Rücken schmerzte vom harten Liegen, doch nicht so sehr, dass sie bereit war, sich deshalb zu bewegen. Sie wusste, sobald sie sich auch nur einen Millimeter rührte, würde die Restwärme um ihren Körper herum verpuffen und sie noch mehr frieren lassen. Sie war müde und zu Tode erschöpft.
Die Möwe krächzte erneut, noch näher als vorher.
Geh weg! ,
dachte Keelin. Der Vogel war inzwischen tatsächlich so nah, dass sie seine tapsenden Schritte auf dem morastigen Grund hören konnte. Er schien in Richtung ihrer Beine zu laufen.
Dann zuckte plötzlich ein scharfer Schmerz durch ihre linke Wade. Sie fuhr zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Die Möwe flatterte erschrocken auf und flog schimpfend davon.
Mistvieh! ,
dachte sie, während sie sich aufsetzte. War das etwa ein Test gewesen, ob sie noch lebte? Sie schüttelte den Kopf. Doch die Wunde war nicht schlimm. Noch während sie sich zwinkernd im hellen Tageslicht umsah, schloss sich frische Haut über der Verletzung und hinterließ nichts weiter als ein wenig Blut. Das Loch in ihrer Hose blieb natürlich, doch Keelin befürchtete, dass das ihre geringste Sorge war. Langsam aber sicher kamen die Erinnerungen der letzten Nacht zurück und ließen ihre Situation alles andere als rosig erscheinen.
Sie war alleine. Mutterseelenalleine. Und das in Deutschland, in Feindesland, weit hinter den Linien. Die Germanen suchten allerWahrscheinlichkeit nach bereits nach ihr. Und Keelin hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Sie brauchte eine Pforte in die Außenwelt, soviel war
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