Schattensturm
ernannteHåkon zu ihrem Anführer und verbrachte eine letzte, bedrückte Nacht in ihrer Gesellschaft, bevor sie am nächsten Morgen mit Gunnar und Trond zum zweiten Teil ihrer Reise aufbrach.
Es brauchte keine Stunde, bis Veronika den Rest des Weges am liebsten gelaufen wäre. Sie konnte nicht besonders gut reiten. Das Pferd, das sie in der Nacht des Aufstandes geritten hatte, hätte nicht friedlicher und sanftmütiger sein können. Nun saß sie auf einem stämmigen Rappen, der kaum auf Kommandos reagierte, beständig unruhig schnaubte und auf sie wirkte wie ein Dämon direkt aus der Hölle. Die Pferde ihrer Begleiter waren noch schlimmer, doch sie waren beide erfahrenere Reiter als sie und hatten deshalb keine Probleme. Trond war sogar ein früherer Reitlehrer, weshalb sie ihn als zweiten Begleiter für die Reise ausgesucht hatte. Beständig beriet und verbesserte er sie, bis ihr der Kopf schwirrte und sie nicht mehr wusste, wie sie hieß und was sie hier tat. Doch es schien etwas zu bewirken, denn mit den Tagen und Wochen fühlte sie sich immer sicherer im Sattel, bis sie schließlich das Gefühl hatte, eine gute Reiterin zu sein – ein Gefühl, das Trond offenbar nicht teilte, denn er fuhr fort, sie zu korrigieren und zu verbessern, als ob sie sich noch immer so anstellte wie am ersten Tag.
Die Strecke führte sie zuerst über eine mit holprigem Pflaster ausgebaute Straße nach Nordosten durch eine relativ flache, intensiv landwirtschaftlich genutzte Region. Es war die letzte Phase der Erntezeit, in der viele Felder bereits abgeerntet und stoppelig den Wegesrand säumten und die Bauern mit ihren Knechten und Leibeigenen den letzten Feldern mit Sense und Sichel zu Leibe rückten. Singvögel aller Größen und Farben hingen in Schwärmen über den Stoppelfeldern und stritten um herabgefallene Körner, während kleine Kinder versuchten, sie davon abzuhalten. Am Himmel kreisten Raubvögel auf der Suche nach Beute, die sich in den kahlen Feldern kaum noch verstecken konnte. Abends kehrten Veronika und ihre Begleiter bei den örtlichen Bauernfamilien ein, oftmals keltischer Abstammung, die es gewohnt waren, imAustausch gegen ein paar Münzen Fremde unterzubringen, die diese wichtige Handelsroute bereisten.
Sie erreichten das Ostufer des Mjøsa, eines fjordähnlichen Sees, an dessen Ufer noch mehr Felder und Wiesen lagen. Überall befanden sich Weiler und kleine Dörfer, und langsam verstand Veronika den Fürsten aus Oslo, der sie trotz ihres gleichen Ranges das gesamte Gespräch über behandelt hatte wie ein unbedeutendes Mädchen aus der Provinz. Wahrscheinlich lebten in seinem Einflussgebiet zehnmal, vielleicht hundertmal mehr Menschen als an ihrem kleinen Romsdalsfjord, an dem die Menschen Tag für Tag dem Meer ihre Daseinsberechtigung abtrotzen mussten. Drei Städtchen lagen am Mjøsa, Hamar, Ringsaker und Lillehammer, zusammengenommen wahrscheinlich ebenso groß wie Åndalsnes, mit eigenen Märkten und Herbergen, teurer, aber durchweg komfortabler als alles, was Veronika bisher auf ihrer Reise erlebt hatte. Mittlerweile waren ihre Sattelschwielen am Hintern so schlimm, dass sie die zusätzlichen Kosten ignorierte und sich und ihren Männern den Luxus gönnte, abends im flackernden Schein von Öllampen beisammen zu sitzen, Bier zu trinken und den Geschichten des Wirts oder der anderen Reisenden zu lauschen, denen sie dort begegneten. In Lillehammer, der nördlichsten der drei Städte am Ende des Sees, suchte sie sich sogar einen Heiler für ihren Hintern und blieb für zwei Tage, bis sie sich wieder in den Sattel wagte.
Nördlich von Lillehammer veränderte sich das Terrain deutlich. Der Weg, jetzt nicht mehr als ein matschiger Karrenpfad, folgte nun dem Lauf des Flusses Lågen. Zwar umgab den Fluss ein schmaler Saum von Feldern, doch dahinter erhoben sich große, mit dunklem Wald bewachsene Hügel, die teilweise bis zu siebenhundert Meter über den Fluss aufragten. Das Wetter wurde schlechter und brachte viel Regen, der den Lågen mehrmals über seine Ufer treten ließ und Veronika und ihre Gefährten vor große Rätsel über den weiteren Verlauf des Weges stellte.
Die größte Veränderung aber waren die Menschen. Das Gudbrandsdalmit dem Fluss Lågen war helvetisches Territorium. Die wenigen Leute, denen sie in dem Regenwetter begegneten, beobachteten sie misstrauisch, und wenn sie abends in einem Langhaus am Wegesrand einkehrten, saßen sie abseits und hielten sich ruhig und unauffällig, während um sie
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