Schattensturm
genaue Größe jedoch konnte sie nur schätzen, da die Wikinger die Riemenlöcher in der Bordwand verstopft und ihr rotweiß gestreiftes Segel gehisst hatten. Die Ruderer saßen auf ihren Bänken und unterhielten sich oder starrten Löcher in die Gegend. Es waren bärtige, kräftige Männer, und Keelin fand, dass es auch Kelten hätten sein können. Doch sie
wusste
, dass es keine Kelten waren, und so sorgte ihr Stammeshass dafür, dass sie sie hasste.
Gelächter schallte zur ihr herüber, offenbar hatte einer der Männer etwas Lustiges erzählt. Nachdenklich starrte Keelin ihnen hinterher, unentdeckt und weiter auf der Flucht.
Wie kann es Frieden geben
, fragte sie sich,
solange wir unseren Hass nicht besiegen können?
Schließlich wagte sie es, sich aus dem Schilfgestrüpp zu erheben und weiterzugehen.
Erst dann fiel ihr auf, dass keiner der Germanen auf ihre Spuren aufmerksam geworden war. Waren sie etwa doch nicht so offensichtlich, wie sie gedacht hatte? Oder waren die Germanen einfach nur unachtsam gewesen? Sie beschloss, es nicht noch einmal zu riskieren, und arbeitete sich mühsam landeinwärts, bis sie auf einen weiteren Seitenarm stieß, dem sie stromabwärts folgte, parallel zu ihrer bisherigen Marschrichtung. Natürlich konnten ihr auch hier Boote begegnen, aber sie hoffte, hier weg von ihrer ›Hauptstraße‹ zu sein.
Schließlich dämmerte der Abend, und sie begann sich nach einem Unterschlupf umzusehen. Sie fand ihn schließlich untereinem Korbweidengestrüpp, wo ein großes Vogelnest ein zumindest einigermaßen trockenes Lager versprach. Sie kroch hinein und rollte sich darauf zusammen, bevor sie noch weitere lose Äste und Zweige über sich zog, in der Hoffnung, damit zumindest ein kleines bisschen Wärme an ihren Körper zu binden.
Dennoch wurde es die unbequemste Nacht, die sie in ihrem bisherigen Leben erlebt hatte. Sie fror erbärmlich, zitterte und schlotterte in einem fort, immer wieder unterbrochen von kurzem, erschöpftem Dämmerschlaf. Ein böiger Wind begann über Nacht, stark genug, um sogar in ihrem Versteck noch spürbar zu sein und sie weiter auszukühlen. Dazu irritierte sie das ständige Brausen und Rascheln des Schilfrohrs um sie herum, so dass sie schließlich beim ersten Morgengrauen beschloss weiterzumarschieren. Viel unangenehmer als die vergangene Nacht konnte der Marsch kaum werden. Sie arbeitete sich also wieder zum Flussufer vor, stellte fest, dass die Flut gerade hoch stand, und machte sich auf den beschwerlichen Weg weiter flussabwärts.
Im Laufe des Vormittags frischte der Wind weiter auf und wurde zu einem ausgewachsenen Sturm. Dicke, graue Wolken zogen heran und entluden sich über dem flachen Land. Keelin marschierte im strömenden Regen weiter und fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben wieder trocknen würde. Die Ebbe kam und ging, Keelin durchschwamm zwei weitere Altwässer. Die Hoffnung darauf, Brynndrech wiederzufinden, hatte sie längst aufgegeben.
Umso mehr war sie überrascht, als vor ihr plötzlich Stimmen den Sturm übertönten. Hastig kletterte sie das schlammige Ufer hinauf, um im Schilf Deckung zu finden. Erneut hörte sie Stimmen, Schreie, mit denen jemand versuchte, Regen und Sturm zu übertönen. Sie verstand kein Wort und schlich weiter.
An dem Ufer vor ihr lag ein struppiger Weidenstamm zur Hälfte im Wasser und hatte dort große Mengen Treibgut angesammelt. Dahinter sah sie – jetzt, wo sie durch die Stimmen vorgewarnt war – ganz deutlich den Mast eines Schiffes aufragen, das selbst hinter dem Gestrüpp verborgen lag.
Germanen
, dachte sie missmutig.Dennoch schlich sie näher. Es musste einen Grund geben, weshalb sie hier angelegt hatten. Vorsichtig arbeitete sie sich durch das Gestrüpp und kroch unter dem Weidenstamm hindurch. Regen und Sturm übertönten jedes Geräusch, das sie verursachte. Die Stimmen waren jetzt lauter und ganz nahe, doch sie verstand natürlich kein Wort. Einmal mehr verfluchte sie die Tatsache, den Knochenzauber zurückgegeben zu haben.
Schließlich konnte sie nach draußen sehen. Das Boot, ein weiteres germanisches Langschiff, lag in etwa zwanzig Metern Entfernung halb auf dem Watt. Ein Teil seiner Besatzung war noch an Bord, ein anderer Teil jedoch stand etwa fünf Meter vor ihr um eine reglose Gestalt herum, die dort auf dem Bauch im Wattschlamm lag. Sein Gesicht steckte im Watt, der Mann war offenbar tot. Einer von ihnen beugte sich gerade zu ihm hinunter, während zwei andere sich lautstark unterhielten.
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