Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
Vom Netzwerk:
zugesehen hatte, wie die Klinge des Jarls durch Brynndrechs Speerschaft in seine linke Flanke geschnitten hatte. »Los, zeig her!«, flüsterte sie.
    Brynndrech schnitt eine Grimasse, während er sich herumdrehte, um ihr seine andere Seite zuzuwenden. Keelin sog erschrocken die Luft ein, als sie die klaffende Wunde in seiner Flanke sah. Sie war fünf oder sechs Zentimeter lang, der Wundgrund feuerrot entzündet und mit alten Blutklumpen belegt. Frisches Blut war kaum zu sehen, offenbar hatte der Schnitt kaum Adern verletzt, was an sich schon ein kleines Wunder war.
    »Warum hast du nichts gesagt?«, schimpfte sie besorgt. »Wir hätten uns den Germanen ergeben sollen! Sie hätten uns helfen können!«
    »Sie hätten uns umgebracht«, erwiderte Brynndrech. »Das ist nur eine Fleischwunde!«
    Er knirschte mit den Zähnen, als Keelin die Wundränder auseinander zog, um seine Aussage zu überprüfen. Doch offenbar hatte er recht, sie sah nirgendwo ein Anzeichen dafür, dass der Schnitt den Bauchraum erreicht hätte. Er hatte wahnsinniges Glück gehabt. Und trotzdem, die Infektion war nicht zu unterschätzen …
    Sie sah nachdenklich unter dem Baumstamm hervor, wo noch immer Sturm und Regen tobten. Es war kein guter Platz, um einen Verwundeten zu pflegen. Aber sie befürchtete, dass sie keinen besseren finden würde.
    »Bleib hier«, wies sie ihn an, während sie selbst aus der Deckung kroch. »Ich muss ein paar Sachen suchen.«
    Damit lief sie zurück in den Regen, mit den Gedanken bereits bei ihrer Heilkunst. Sie würde Kräuter brauchen. Sie wusste nicht genau, welche Pflanzen hier in dieser fremden Umgebung wuchsen, doch sie hoffte auf Zinnkraut zur Blutstillung, Thymian zur Wundbehandlung, Weidenrinde und Wegerich gegen das Fieber. Wie sie die Wirkstoffe aus den Pflanzen herausbekommen sollte, war ihr noch schleierhaft. Ebenso war ihr schmerzlich bewusst, dass sie keine Klinge besaß, mit der sie die Wunde ausschneiden konnte, kein Feuer, um Brynndrech zu wärmen, kein Werkzeug, kein irgendwas.
    Barfuß und mit nichts anderem bekleidet als einer Hose und einem Hemd lief sie durch Sturm und Regen, frierend und zu Tode erschöpft. Ihre Zähne waren zusammengebissen, ihre Fäuste geballt. Sie war eine Heilerin. Sie würde einen Weg finden.

VERONIKA
     
    Åndalsnes am Romsdalsfjord, Norwegen
    Samstag, 13. November 1999
    Die Innenwelt
     
     
    Laut den Kelten in Åndalsnes war es ein untypischer Tag für den November, trocken und mit Sonnenschein. Die Felder am Fjord waren bereits abgeerntet und lagen brach. Nur das Vieh war noch draußen und weidete stumpfsinnig vor sich hin. Dünner Rauch quoll durch die strohgedeckten Dächer der Stadt und wurde bald vom Wind verblasen. Das Blau des Himmels wurde nur hier und da von ein paar kleinen weißen Wolken unterbrochen, die vom Wind träge über das Land geschoben wurden. Die meisten Singvögel waren schon längst nach Süden verschwunden und hatten nur ein paar launische Krähen und Elstern zurückgelassen, die auf den kahlen Bäumen saßen und hin und wieder ein Krächzen oder Keckern von sich gaben.
    Gelangweilt
, dachte Veronika bei sich. Die langweilige Jahreszeit stand bevor.
    Nicht, dass den Leibeigenen und selbst den Freien im Winter die Arbeit ausgehen würde – bei weitem nicht. Veronika hatte sich darüber informiert, was es alles zu tun gab, nachdem sie einmal mit einem unvorsichtigen Kommentar viele böse Blicke eingefangen hatte. Aber das meiste davon fand drinnen statt, in einem einzigen Raum, denn die meisten Gebäude der Stadt besaßen nicht mehr. Den ganzen Winter über in einem Raum zu verbringen war eine Vorstellung, die Veronika angst und bange machte, ein Grund unter mehreren anderen, weshalb sie nun nicht zu Hause saß und sich erholte, sondern mit Gunnar und dem Rest der Leibwache, die sie nicht auf die Reise mitgenommen hatte, zur Festung Trollstigenritt. Vielleicht war ein Winter auf der Festung lustiger. Zumindest gab es mehr als nur einen Raum …
    Trollstigen …
Eirik hatte ihr an einem Abend bei Feuer und Met ein wenig über die Geschichte der Festung erzählt. Der Name – auf Deutsch Trollsteig oder -stiege – bezog sich vor allem auf den extrem steilen Anstieg zum Pass hinauf. Die Legende besagte, dass früher der Romsdalsfjord von Schatten und Trollen besiedelt gewesen war, die hin und wieder für einen Raubzug ins benachbarte Tal im Süden diesen steilen Pfad erklommen hatten. Das benachbarte Tal jedoch war genau jenes, in dem Veronikas

Weitere Kostenlose Bücher