Schattensturm
Vorfahren Thorsteinn und Frithiof als Könige geherrscht hatten. Um die Raubzüge ein für allemal zu beenden, beschlossen die beiden Könige, am nördlichsten Ende des Passes eine Festung zu errichten, deren Lage den Trollsteig so hervorragend beherrschte, dass selbst eine kleine Handvoll Krieger ausreichte, um eine ganze Armee aufzuhalten. Später, als die Trolle längst aus dem Romsdalsfjord vertrieben waren, war auf dem Trollsteig die große Treppe erbaut worden, die noch heute hinauf zur Festung führte, um die Landverbindung zwischen den Fjorden zu verbessern. Es gab zwar noch zwei oder drei verschlungene Pfade durch den Grindillskogr im Westen, doch die waren im Winter nicht passierbar.
Die Ironie der Situation entging Veronika nicht. Heute saß sie, Frithiofs Nachfahrin, am Romsdalsfjord, während Trolle und Schatten im Süden waren. Sie hatten die Plätze getauscht, doch die Trollstigen-Festung wachte noch immer über sie. Zwar war sie gegen einen Angriff vom Pass weit weniger wehrhaft, aber Veronika hatte von keltischen Leibeigenen die Geschichte über die letzte Belagerung der Festung gehört. Offenbar war Trollstigen auch nach Süden hin wehrhaft genug, einen Feind zumindest so lange aufzuhalten, bis Verstärkung aus dem Tal heran war.
Sie war bereits sichtbar: Hoch oben über dem Grund des Tals, dort, wo die Berge längst im grellen Weiß des frischen Schnees erstrahlten, war in einer Kerbe zwischen den Felsriesen ein Turm zu sehen, winzig klein und unscheinbar. Der schmutzig-grüne Hangdavor war gerodet, um einen herannahenden Feind frühzeitig zu bemerken, und mit vereinzelten Ziegen betupfelt, die dort weideten.
»Sieht nicht nach viel aus«, kommentierte Gunnar.
Veronika legte den Kopf schräg. »Abwarten«, meinte sie. »Die Perspektive täuscht oft. Die Festung wäre nicht so berühmt, wenn sie schwach wäre.«
»Ich weiß. Svein war im August oben stationiert. Er war ziemlich beeindruckt. Aber von hier unten …« Er zuckte mit den Schultern.
Am Fuße des Steigs kamen sie an zwei leerstehenden Unterständen vorbei, in denen vermutlich die Ziegen bei schwerem Wetter Unterschlupf finden konnten – möglicherweise aber auch nur ihre Hirten. Veronika war sich nicht sicher, ob es hier überhaupt Hirten gab oder ob die Tiere solange alleine gelassen wurden, bis man ihnen ans Leder wollte. Sie fragte Gunnar danach, der jedoch landwirtschaftlich eine ebenso große Niete war wie sie.
Die Treppe hinauf zur Festung war äußerst eindrucksvoll. Im unteren Abschnitt bestanden sie noch aus Kies, der von hölzernen Balken gehalten wurde, weiter oben jedoch waren die Stufen aus dem blanken Felsen geschlagen. An der engsten Stelle waren sie vier Meter breit, so dass Gunnar zu keinem Moment sein Reitpferd von ihrer Seite lenken musste, und oft sogar noch breiter. Ihre Errichtung musste ein enormer Aufwand gewesen sein. Der Hang bestand größtenteils aus Wiese, jedoch hatten hier und da Strauchwerk und sogar schmale Birken Fuß gefasst, was man von unten noch nicht gesehen hatte. Veronika wunderte sich nicht, dass die Kelten die Pflege etwas vernachlässigt hatten, schließlich drohte die Gefahr in diesen Tagen ja von der anderen Seite.
Hin und wieder warf sie skeptische Blicke hoch ans Ende der Treppe. Der Turm ragte steil über ihnen auf, grau und bedrohlich, die nach unten gerichteten Schießscharten wirkten wie kleine bösartige Äuglein, die sie beobachteten. Sie stiegen weiter und weiter, eine Serpentine nach der anderen, verloren dabei den Turm abernie aus den Augen. Schließlich, eine Stunde später, erreichten sie das mit eisernen Bändern beschlagene Eichentor in der Basis des Turms. Der Felssims davor war gerade mal zwei Meter breit und bot nicht einmal annähernd genug Platz für eine Ramme oder anderes Belagerungsgerät. Die einzige Möglichkeit waren wohl Leitern, um die fünf Meter hohen Mauern aus grauem Granit zu überwinden.
Veronika stellte sich in Gedanken die Trolle vor, die mit Sturmleitern über den Köpfen von ihren Schatten die Treppe hinaufgetrieben wurden, unter stundenlangem Beschuss aus den Schießscharten des Turms und des Walles, nur um dann ihre Leitern an die Wände dieses Bollwerks zu lehnen und mit ihnen von den Verteidigern in den Abgrund gestoßen zu werden. Es war ein Alptraum.
Und wie zum Teufel hat es nun Wolfgang da hineingeschafft? ,
wunderte sie sich. Sie wusste, sie würde es nie erfahren. Wenn sie ihn darauf ansprach, würde er nur so tun, als ob es ein
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