Schattensturm
Aber glaubst du denn, du bist allein damit? Ich bin die Eibenherrin! Es ergeht allen meinen Kindern so! Sie alle erzählen mir die gleichen Geschichten.«
Keelin fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Empörung machte sich in ihr breit – es war
ihr
Leben, wenn sie auch sonst nichts besaß, so doch wenigstens das! –, doch ebenso auch Schuldgefühle. Besaß sie denn wirklich das Recht, sich zu beschweren, wo andere ein gleiches oder gar noch schlimmeres Los gezogen hatten?
Sie wollte schon dazu ansetzen, etwas zu sagen, als die Stimme weitersprach: »Wenn du also um deinetwillen nicht mehr leben willst, dann lebe für deine Aufgabe. Der Pfad der Eibe ist hart und beschwerlich, keiner ist härter, doch wenn du mit deinem Leben abgeschlossen hast, kannst du ihn gehen ohne Angst und Reue. Also los! Kehre zurück in deinen Körper! Wach auf! Und tue, was du tun musst!«
»Aber …«, stammelte Keelin. »Aber ich weiß doch nicht, was ich tun muss!«
»Doch, du weißt es. Denke darüber nach. Du weißt es. Du hast bisher nur nicht gewagt, bis zur letzten Konsequenz danach zu handeln.«
»Aber –«
Doch der Traum war vorbei.
Sie schlug erneut ihre Augen auf. Über ihr hing ein trüber, grauer Himmel, vor dem sich die Silhouetten mehrerer Möwen abzeichneten, die hungrig über ihr kreisten. Eine tiefe Stille herrschte um sie herum. Brynndrechs Körper in ihrem Arm fühlte sich kalt an, so unendlich kalt.
Tu, was getan werden muss
, hatte die Eibe gesagt. Aber Keelin wusste doch nicht, was getan werden musste! Sie hatte sie fragen wollen, doch die Worte der Eibe hatten ihr nicht weitergeholfen,so sehr sie auch in ihrem Kopf herumkreisten. Keelin verstand sie nicht. Hoffnungslosigkeit breitete sich aus und gesellte sich zu Verzweiflung und Einsamkeit. Was sollte sie tun in dieser Welt voll von sinnlosem Krieg und brutaler Gewalt? Was konnte sie bewirken, eine einzelne Person, wo selbst ganze Völker nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig an den Kragen zu gehen? Krieger und Meuchelmörder waren die beiden typischen Pfade der Eibe, und sowohl als Krieger als auch als Meuchelmörder hätte Keelin gewusst, wie sie dieser Welt helfen könnte. Sie war jedoch weder das eine noch das andere. Sie war Heilerin. Aber was würde es verändern, wenn sie ihre bescheidenen Kräfte dazu einsetzte, eine Handvoll Leute zu retten oder nicht? Ganze Völker benötigten Heilung, um die drohende Niederlage im Krieg gegen die Schatten noch irgendwie aufzuhalten.
Keelin zwinkerte.
Du hast bisher nur nicht gewagt, bis zur letzten Konsequenz danach zu handeln
, hatte die Eibe gesagt.
Wenn du mit deinem Leben abgeschlossen hast, kannst du danach handeln ohne Angst und Reue.
Plötzlich glaubte sie zu wissen, was ihr Baumzeichen von ihr erwartete.
Sie rappelte sich auf, sah zurück zu Brynndrech. Für einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ob sie ihn wohl begraben sollte. Sie entschied sich dagegen. Es gab keine Steine, die sie auf das Grab legen konnte, um es vor Raubtieren zu bewahren. Wahrscheinlich würden die Marschbewohner mit dem Graben anfangen, sobald Keelin ihm den Rücken gekehrt hätte. Es war vergebene Liebesmühe.
Sie beugte sich über ihn und küsste ihn noch einmal auf die Lippen. »Mach es gut, Brynndrech«, murmelte sie. Sie schob seine Dreadlocks hinter seine Ohren und strich ihm sanft über die Wange. »Wir sehen uns wieder, in einer anderen Welt, ja? Ich werde nach dir suchen!«
Dann kletterte sie unter dem Baum hervor und marschierte los. Nach Norden, nach Hamburg, auf der Suche nach einer Pforte. Sie zwang sich nicht zurückzusehen.
MICKEY
Hamburg, Deutschland
Freitag, 22. Oktober 1999
Die Außenwelt
»Yah?«, meldete sich eine raue Stimme am Telefon.
»Hier ist Mickey. Ich brauche den Boss.«
»Das große A?«
»Genau den. Sag ihm, dass wir etwas herausgefunden haben. Das wird ihn interessieren.«
»Moment.«
Mickey klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und machte sich daran, den Burger auszupacken, den er sich gekauft hatte. Es war ein großer, mit viel echtem Rindfleisch, Käse und Mayo. Dazwischen steckten irgendwo ein Alibi-Salatblatt und eine unreife Tomatenscheibe, die jedoch beide in bester Burger-Tradition nach nichts schmeckten und deshalb getrost ignoriert werden konnten. Es war eine Wohltat. Er spürte, wie ihm die Burgersoße in den Bart tropfte, doch das störte ihn nicht. Mit einer Hand ließ sich ein Burger nicht anders essen, und seine zweite
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