Schattensturm
Keelin bückte sich und kroch unter den Ästen hindurch nach »drinnen«, wo der Waliser an dem Baumstamm lehnte, genau so, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Die tote Ente war verschwunden und vermutlich in den Mägen einiger besonders mutiger Möwen gelandet. Keelin schnitt eine Grimasse. Sie würde noch einmal jagen gehen müssen. Aber zuerst setzte sie sich neben Brynndrech und schmiegte sich an ihn, um ihm wenigstens mit einem Teil ihrer Körperwärme zu helfen. Zu ihrer Überraschung fühlte er sich kühl an, nicht mehr fiebrig und heiß wie bisher. Instinktiv fasste sie nach seinem Puls. Er war langsam. Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.
»Brynndrech, wie geht es dir?«
»Hallo«, flüsterte er schwach. Er zwinkerte mehrmals und versuchte mühsam, seinen Kopf zu ihr zu drehen. Dabei stöhnte er leise.
Ihr Lächeln verschwand. Er wirkte nicht besser, sondern noch schlechter als am Morgen. Sein Gesicht war aschfahl. »Brynn drech ?«, fragte sie mit neuer Sorge und Angst.
»Schön … dass du … wieder … da bist …«
»Brynndrech, was ist los?« Er atmete auch komisch, fiel ihr auf. Nach besonders tiefen Zügen flachte sein Atem langsam ab und setzte plötzlich ganz aus. Erst nach ein paar Sekunden atmete er weiter, erst flach, dann wieder tiefer, bis die Züge erneut flacherwurden und erneut aufhörten. Keelin erstarrte. Sie hatte diese Art zu atmen bereits erlebt, im Krankenhaus, zuletzt auch im Verwundetenunterstand des Heerlagers nach der Schlacht.
So atmeten Sterbende.
Plötzlich ergaben auch seine niedrige Temperatur und sein langsamer Puls einen Sinn. Sein Körper war ausgebrannt. Er hatte nicht mehr die Kraft, ein Fieber aufrechtzuerhalten oder einen schnelleren Herzschlag. Er starb.
Jetzt.
Direkt vor ihren Augen. Ihre Hand tastete nach der seinen und umfasste sie. »Brynn drech «, flüsterte sie noch einmal. Ihre Stimme zitterte. Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Brynndrech, bleib bei mir!«
»Keelin …«, flüsterte er. Sie legte ihr Ohr vor seinen Mund, er sprach so leise … »Es … es tut … so … weh …«
»Brigantia und Sul«, murmelte sie und schloss die Augen. Sie aktivierte ihre Kraft und saugte den Schmerz aus seinem Körper. Für einen Moment spürte sie das dumpfe Pochen in seiner Wunde, das Brennen in seinen Lungen, den stechenden Flankenschmerz, das Spannen seines Bauchs. Sie hielt den Schmerz länger als nötig. Erst als sie es nicht mehr ertrug, ließ sie den Schmerz verpuffen.
Seine Züge entspannten sich, und Brynndrech lächelte. »Es ist so … viel besser.« Er schloss seine Augen.
»Kann ich sonst noch irgendetwas für dich tun?«, fragte sie. Ein Schluchzen saß tief in ihrem Hals und versuchte, ihre Kehle hinauf zu entrinnen, doch sie hielt es zurück mit aller Kraft, die sie besaß.
»Du kannst bei mir sein …«
»Ich bin hier! Ich gehe nicht mehr weg, ich verspreche es dir!«
Sie schwiegen. Draußen krächzten die Möwen, die sich langsam wieder um das Versteck scharten. Ein sanfter Wind ließ das Schilf um sie herum rauschen. Die Sonne ging langsam unter und vertiefte die Schatten. Brynndrechs Atem schwoll an und ab. In jeder Pause fragte sich Keelin, ob es die letzte wäre. Tränen strömten über ihr Gesicht, ihr war eisig kalt, nicht nur von außen, wosie ihre letzte Wärme an Brynndrechs kalte Haut verlor, sondern auch von innen. Vor allem von innen. Der Waliser war ihr einziger Freund auf dieser Welt. Jetzt starb er. Und es war ihre Schuld.
Damit brach das Schluchzen aus ihr heraus. Sie konnte es nicht länger aufhalten. Sie weinte und heulte und legte ihre Arme um seine Schultern und presste sich fest an ihn. »Du darfst nicht sterben«, flüsterte sie immer wieder, »Bitte, bitte, stirb nicht! Lass mich nicht alleine!«
»Keelin«, murmelte er.
»Ich habe niemanden außer dir, Brynndrech! Du darfst nicht sterben! Bitte!«
»Keelin …«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Ja?«, flüsterte sie.
Sein Gesicht verzog sich, und sie spürte, dass der Schmerz zurückgekommen war. Sie aktivierte erneut ihre Kraft, ließ ihn durch sie hindurch und davon fließen. Dieses Mal jedoch entspannten sich seine Züge kaum. »Keelin …«, murmelte er erneut. Die Venen an seinem Hals traten dick hervor, seine Haut war mit feinen, bläulichen Flecken marmoriert, was sie zuerst auf das zunehmende Zwielicht geschoben hatte. Aber es war nicht das Zwielicht.
»Ja, Brynndrech …«
»Keelin, ich … ich liebe
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