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Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
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dich …«
    Für einen Moment schien ihr Herz stehen bleiben zu wollen. »Ich liebe dich auch«, flüsterte sie und wusste im selben Moment, dass es wahr war. Vorsichtig nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und küsste zärtlich seine Lippen. Sie waren kalt und rau.
    Er konnte nur noch flüstern: »Es tut … mir … leid …«
    »Dir braucht gar nichts leid zu tun!«, erklärte sie ihm sanft.
» Mir
tut es leid! Ich war die ganze Zeit so dumm …« Sie nahm ihn wieder in die Arme und schmiegte sich an ihn. Noch immer strömten Tränen über ihre Wangen, doch das Schluchzen war vorüber. Nun weinte sie lautlos.
    Die Sonne versank vollständig hinter dem Watt. Die Möwen versuchten einmal, an ihr zu picken, doch sie verscheuchte sie mit einem geworfenen Stück Dreck. Danach zogen sich die Vögel zurück, vermutlich in der Hoffnung, am nächsten Morgen ihre Leichen vorzufinden. Keelin ertappte sich dabei, diese Hoffnung zu teilen. Sie fühlte sich müde, so unendlich müde, und so kalt … Sie starrte vor sich hin, lauschte Brynndrechs Herzschlag, dachte an gar nichts. Irgendwann fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
     
    Als sie am Morgen erwachte, war Brynndrech tot. Tränen stiegen in ihre Augen und rannen über ihre Wangen, als sie lautlos zu weinen begann. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass etwas passieren würde, was den Waliser retten könnte. Aber es war nichts passiert. Kein Wunder, kein Geist, kein Avatar, der sich in ihr Schicksal eingemischt hätte. Ihre Verzweiflung war grenzenlos.
    Sie rappelte sich auf und verscheuchte die Möwen, die sich bereits wieder um sie herum versammelt hatten. Dann setzte sie sich erneut an seine Seite, schloss ihn in ihre Arme und begann zu beten. Stundenlang flehte sie still ihre Götter um den Mut an, sich selbst ein Ende setzen zu können. Es gab nichts, was sie in dieser Welt noch hielt. Hätte sie Brynndrechs Druidendolch gehabt, hätte sie sich ohne Zögern die Kehle durchgeschnitten. Aber sie besaß ihn nicht, er hatte ihn in der Nacht ihrer Flucht von der Harburg im Wasser verloren. Sie konnte nur versuchen, sich im Strom zu ersäufen und darauf zu hoffen, von den Fischen gefressen zu werden, bevor sie ihre Regenerationskräfte zu neuem Leben erwecken würden. Doch Ertrinken war ein grauenvoller Tod, und ihre Angst davor zu groß.
    Über ihr Beten und Flehen schlief sie schließlich wieder ein.
     
    »Keelin Eibenkind!«
    Keelin schlug die Augen auf und war völlig überrascht, um sich herum nicht mehr die weite, flache Wattlandschaft zu sehen. Stattdessenumgaben sie hohe, dicht mit Kiefern bedeckte Berghänge, über denen graue Gipfel thronten. Ein schmaler brauner See erstreckte sich über den Talgrund.
Glen Affric
, wusste sie.
    »Keelin Eibenkind!«, hörte sie den Ruf erneut. Es war eine weibliche Stimme, hoch und glockenklar.
    Sie rappelte sich auf und folgte ihrem Ruf durch den Wald. Die Luft roch nach Kiefernharz, der Boden war übersät mit herabgefallenen braunen Nadeln. Vögel zwitscherten in den Bäumen, die der Wind sanft rauschen ließ.
    »Keelin Eibenkind!«
    Schließlich erreichte sie einen Felsen, in dessen Schatten eine noch junge Eibe stand. Ihre dunkelgrünen kurzen Nadeln standen im deutlichen Kontrast zu den längeren, helleren Nadeln der sie umgebenden Kiefern. Wenngleich Keelin nur einige Monate im Glen Affric verbracht hatte, erkannte sie diesen Ort wieder. Es war
ihre
Eibe. Ihr Seelenbaum, den man für sie gepflanzt hatte, als man sie in die Innenwelt geholt hatte. Der Baum hatte nach ihr gerufen.
    Sie schritt zu ihm und ging davor in die Knie. »Herrin Eibe«, flüsterte sie.
    »Keelin«, kam die Antwort.
    »Ihr habt mich gerufen?«
    »Ja. Ich wollte mich nicht mehr länger für deine Anmaßung schämen.«
    Keelin zuckte etwas zurück. »Herrin? Weshalb … Was meint Ihr mit Anmaßung?«
    »Deine Anmaßung, zu glauben, dass dein Leben
dir
gehört, um es frei nach deinem Willen wegzuwerfen, wann immer es dir passt.«
    Die Antwort war wie ein Schlag ins Gesicht. Keelin musste mehrmals schlucken. Sie spürte schon wieder Tränen in den Augen, die sie schnell davonzwinkerte. »Herrin, ich –«
    »Sag kein Wort. Ich weiß, was du sagen willst. Du willst mir etwas erzählen von Verzweiflung und Einsamkeit und Ungerechtigkeit.Vielleicht wunderst du dich jetzt, woher ich das weiß. Denk nach! Du bist eine Eibendruidin. Es ist dir vorbestimmt, ein einsames Leben zu führen, von niemandem angesehen, von vielen verachtet, trostlos und ungeliebt.

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