Schattensturm
aus dem Schilf. Baturix prallte zurück und spießte sich beinahe an Veroclöts Speer auf. Er musste ein paar Mal tief durchatmen, bevor er weitergehen konnte.
»Verdammte Biester«, murmelte Veroclöt.
Baturix hörte ihn kaum. Er hatte am Boden den wassergefüllten Abdruck eines Fußes oder eines Schuhs entdeckt und sah weitere, als er sich vorsichtig umsah. Sie kamen aus der Richtung, in die sie gingen. Er fragte sich, wie alt sie wohl sein konnten …
» Baturix !«
Liscorix’ Stimme ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Es war die Stimme eines Mannes, der festgestellt hatte, dass sein Bein in der Bärenfalle stand und sich nun nicht mehr zu atmen traute.
Oder der dem Phantom in die Augen schaut …
Baturix wagte es nicht, eine hastige Bewegung zu machen. Mit pochendem Herzen drehte er sich langsam um.
Liscorix hatte seinen Speer ausgestreckt und zeigte damit in das Röhricht, wo ein dunkler Umriss halb vom Schilf verborgen im Wasser lag und sich mit jedem Wellenschlag hob und senkte. Baturix richtete sich langsam auf und sank bis zu den Knöcheln in den Schlamm, als er den Pfad verließ, um danach zu sehen.
Es war eine Leiche. Eine
frische
Leiche. Baturix musste seine gesamte Willenskraft anstrengen, um nicht davonzulaufen; stattdessen packte er sie unter den Armen und zog sie aus dem Schilf. Die anderen wichen von ihm zurück, als er sich mit der Fackel über sie beugte.
Es war ein Mann mit der schwarzen Hautfarbe eines Afrikaners und somit höchstwahrscheinlich ein Fomorer. Sein Alter war schwierig zu schätzen, da von seinem Gesicht nicht mehr viel übrigwar. Fische hatten sich offenbar bereits an ihm zu schaffen gemacht, während die Ratten an seinen Schenkeln genagt hatten. Sein Hals wies tiefe, eingerissene Bisswunden auf, das Fleisch darunter wirkte unnatürlich blass. Das Wasser musste das Blut weggewaschen haben.
»Was hat ihn getötet?«, fragte Hastus. Seine Stimme klang hysterisch.
»Ein wildes Tier, so wie es aussieht«, erwiderte Baturix. »Ein Bär vielleicht?«
»Wenn ein Bär zubeißt, bleibt vom Hals nicht viel übrig«, meinte Baturix’ vierter Mann, Lobix.
Baturix fand zwar, dass an diesem Hals auch nicht mehr viel dran war, doch Lobix war offenbar anderer Meinung. »Dann ein Wolf?« Aber hieß es nicht, dass Wölfe keine Menschen angriffen? Den Begriff, den alle dachten, wagte er nicht auszusprechen:
Phantom …
Aber halt! Wenn es ein Fomorer war, warum griff ihn dann ein Phantom an …?
Baturix wühlte kurz durch die Taschen des Mannes und fand eine bronzene Klinge und einen Brotbeutel mit feuchtem Mehl. Er nahm die Klinge an sich, dann stand er wieder auf. »Gehen wir weiter.«
»Was ist mit ihm?«, erwiderte Hastus.
»Was soll mit ihm sein?«
»Was ist, wenn er wieder aufsteht?«
Baturix schluckte. Die Schatten hatten in der Schlacht von Espeland Untote ins Feld geführt. Es hieß, dass sich manche von ihnen noch Stunden nach der Schlacht zu neuem Leben erhoben hatten. »Wir sind zu fünft«, erwiderte er und ging mit einer Entschlossenheit weiter, die er nicht verspürte. Die anderen folgten ihm eilig.
Nur drei Minuten später fanden sie eine weitere Leiche, diesmal mitten auf dem Pfad. Ihre Kleider waren zerlumpt, ihr Gesicht lag in einer großen Pfütze. Es war eine weiße Frau, und auch sie hatte, als sie sie auf den Rücken drehten, Bisswunden im Hals.
Die Angst wurde langsam unerträglich.
Etwas
ging hier um und tötete Menschen, aber nicht, um sie zu fressen. Es konnte fast nur ein Phantom sein, eines, das mächtig genug war, sich hier, außerhalb des Schattennebels, einen manifesten Körper zu erschaffen. Baturix ertappte sich dabei, wie er sehnsüchtig zu dem Fackelschein am gegenüberliegenden Ufer blickte. War der Zeitpunkt gekommen, Septus um Hilfe zu rufen?
Sie gingen weiter, langsam, vorsichtig, mit schlotternden Knien. Wie einfach wäre es, jetzt umzukehren und zu behaupten, man hatte ja zurück zum Treffpunkt zurückkehren sollen. Doch da war dieses Gespräch, das er vorhin mit Septus gehabt hatte. Würde er ihn noch in seine Dienste nehmen, wenn er ihn hier schmählich im Stich ließ? Er biss die Zähne zusammen und versuchte, seine Furcht in den Hintergrund zu drängen.
Ein paar Minuten später stießen sie auf eine kleine, kreisrunde Lichtung. Hier war der Boden fester, das Ufer frei von Schilf. Genau in ihrer Mitte befand sich ein grauer Stein.
Baturix hielt inne, mit einem Mal unfähig, weiterzugehen. Seine Blase gab plötzlich nach und
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