Schattentänzer
Erwartung, sich von der Sehne zu lösen. Aal zog »Bruder« und »Schwester«, Lämpler ließ den Birgrisen über dem Kopf kreisen. Kli-Kli riss sich von ihrer Zeichnung los und stieß einen erschrockenen Aufschrei aus. Wie hatte es nur geschehen können, dass weder sie noch Egrassa diese Gefahr gespürt hatten?!
Als ich sah, wer da gesprochen hatte, klappte mir der Unterkiefer herunter. Mit allem hätte ich gerechnet, sogar mit einem H’san’kor auf einem Blasenbauch – aber nicht mit vier Mädchen.
Sie waren einander so ähnlich wie Schwestern. Wie können sich vier zwölfjährige Mädchen so tief in den Wald verirren?, schoss es mir durch den Kopf. Wo haben ihre Eltern denn ihre Augen?
Es waren Kinder, von zartem Wuchs, mit kurzem schwarzem Haar, das der Regen genässt hatte, und großen schwarzen Augen. Auf der linken Wange war bei allen mit roter Farbe eine gezackte Linie gemalt, die an einen Blitz erinnerte. Bei dem Mädchen, das gesprochen hatte und etwas vor den anderen stand, zierte auch die rechte Wange ein solcher Blitz. Zusätzlich verliefen unter ihren Augen zwei feine rote Linien.
Die Mädchen trugen eine Art Jacke aus Leder, Fell und Pelz, dazu kurze Röcke aus langen Lederstreifen, aber keine Schuhe. Weder die Herbstkälte noch der Regen schienen ihnen zuzusetzen. (Ich selbst würde mich ja strikt weigern, bei diesem Wetter barfuß durch die Gegend zu laufen.) Ihr Schmuck bestand aus feinen Karneolperlketten und Armreifen, bewaffnet waren sie mit sehr spitz zulaufenden Dolchen.
Egrassa senkte sofort den Bogen und ließ sich auf ein Knie nieder. Kli-Kli vollführte eine ehrerbietige Verbeugung. Aal, Lämpler und ich konnten nur verwundert dreinschauen. Bei Kli-Kli musste man ja mit allem rechnen – aber seit wann ging ein Elf aus der Königsfamilie vor ein paar dahergelaufenen Mädchen auf die Knie?!
»Der Sohn aus dem Haus des Schwarzen Mondes grüßt die Töchter des Waldes!«, ergriff Egrassa das Wort.
Ich riss die Augen auf.
Töchter des Waldes! So nannten Elfen und Orks die Dryaden! Sollten da wirklich Märchenfiguren vor mir stehen?!
Es gab allerlei Gerüchte über Dryaden, doch bislang war kaum ein Mensch den Töchtern des Waldes begegnet. Selbst Elfen, Orks und Kobolde hatten ihnen noch nicht allzu oft von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden.
Elfen und Orks hielten sich zwar gern für die Herren Sagrabas, doch auch sie waren nur zwei Rassen von vielen, die im Königreich der Wälder lebten. Die wahren Herrscherinnen in Sagraba waren indes die Dryaden. Sie duldeten die jungen Rassen in ihren Wäldern, mehr jedoch nicht. Und selbst die stolzen Orks mussten das Haupt vor den Töchtern des Waldes beugen. So hieß es zumindest.
Die Dryaden mischten sich weder in die Streitigkeiten zwischen Orks und Elfen noch scherten sie sich um uns Menschen. Sie kannten nur eine Sorge, und das war der Wald. Ihm halfen sie, seine Bewohner schützten sie, angefangen bei Nachtfaltern und Feldmäusen bis hin zu Oburen und Goldbirken.
Ich hätte nicht sagen können, wie ich mir eine Dryade vorgestellt hatte – aber nie im Leben hätte ich für möglich gehalten, dass sie fast wie ein Menschenkind aussah.
»Der Schwarze Mond«, wiederholte die Sprecherin der Dryaden. »Stolz wie die Flamme und aufbrausend wie das Wasser.« Damit spielte sie auf zwei andere Herrscherhäuser an. »Wie ist dein Name, Elf?«
»Egrassa, Herrin. Zu Euren Diensten.«
»Zu Diensten? Wir bedürfen keiner Dienste von Fremden. Uns hilft der Wald. Aber ich habe vergessen, was sich ziemt. Verzeih. Ich heiße Silbertönender Bach.« Das Mädchen sah den Elfen mit erstaunlichem Ernst an.
Dieser beugte den Kopf nur noch tiefer.
»Es ist mir eine Ehre, der Herrscherin zu begegnen«, fiepte Kli-Kli.
Offenbar hatten wir irgendein besonderes Tiex vor uns.
Derweil dröhnten die Trommeln unverdrossen in unserem Rücken. Irgendwann hielt Mumr es nicht mehr aus und drehte sich um.
»Sorge dich nicht, Mensch«, bemerkte Silbertönender Bach, der Mumrs Blick nicht entgangen war. »Es bleibt noch ein wenig Zeit, bevor geschieht, was vorbestimmt ist. Steh auf, Elf, ein König kniet nicht vor der Herrscherin.«
»Ihr irrt, Herrin, ich bin kein König«, sagte Egrassa sanft und stand auf.
»Ich nehme die Ereignisse nur vorweg«, entgegnete die Dryade. »Ich blicke in die Zukunft, obgleich ich nicht viel zu sehen vermag. Der Sturm, den jener Mensch in sich trägt, versetzt alles in Aufruhr.« Silbertönender Bach sah mich
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