Schattentraeumer - Roman
gewesen, aber im letzten Moment
überlegte sie es sich doch anders, da ihre
yiayia
sie dabei beobachtete, wie sie ihn beobachtete, und Elpida wusste, dass sich ein solches Verhalten für eine junge Frau von
fast zehn Jahren nicht geziemte. Statt Jason also in den Rücken zu stoßen, setzte Elpida sich neben ihn auf die Hafenmauer.
»Wohin schaust du?«, wollte sie wissen.
»Nirgendwohin«, gab Jason zurück.
»Warum schaust du nirgendwohin?«
Der Junge drehte sich mit einem Seufzer zu ihr um. Seine blauen Augen weiteten sich sofort verblüfft. Das Mädchen war wunderschön.
»Mein Vater, Jack, ist da draußen – beim Tauchen.« Jason zeigte auf die Lücke zwischen den Mauern, die in einem Bogen aufeinander
zuliefen.
»Ist dein Vater Fischer?«
»Nein, Archäologe.«
Elpida war nicht sicher, ob sie wusste, was ein Archäologe war, in jedem Fall klang es beeindruckend.
»Da draußen liegt ein altes Schiff«, fuhr Jason fort. »Sie glauben, dass es ungefähr 300 vor Christus gesunken ist. Jack schaut
es sich im Auftrag des Universitätsmuseums von Pennsylvania an.«
»Wo ist Pennsylvania?«
»In Amerika.«
»Dann bist du also Amerikaner?«
»Nein, Brite. Na ja, halb Grieche«, verbesserte Jason sich. »Meine Mutter stammt aus Athen.«
»Und deshalb kannst du so gut Griechisch?«
»Ja.«
»Wo ist denn deine Mamma?«
Jason sah Elpida prüfend an. »Normalerweise erzähle ich den Leuten, dass sie tot ist.«
»Ist sie das denn nicht?«
»Nein.«
»Warum erzählst du es dann?«
»Es gefällt mir besser als die Wahrheit.« Jason schwieg, Elpida wartete ab. Er spürte instinktiv, dass Widerstand zwecklos
war. »Meine Mutter ist mit einem Maler aus Bulgarien durchgebrannt, der Haare am ganzen Körper hatte.«
Elpida lehnte sich zurück und zischte durch die Zähne, da sie das Pfeifen noch nicht beherrschte. Es war sicher nicht leicht,
seine Mamma an einen Affenmann zu verlieren.
»Wo ist Bulgarien?«
Jason erklärte es ihr geduldig, und Elpida gab ihm von ihrer Schokolade ab und hörte zu. Der Junge hatte einen sanften Akzent,
der sich von ihrem eigenen schweren unterschied, und der ihr gut gefiel. Seine Worte kamen ihr vor wie Musik, und sie bombardierte
ihn mit Fragen, damit die Musik weiter in ihren Ohren spielte.
Sie erfuhr, dass Bulgarien an der Grenze zu Griechenland und der Türkei lag – endlich zwei Länder, die sie gut kannte – und
dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein kommunistischer Staat, eine Volksrepublik daraus geworden war.
»Das klingt gut«, stellte Elpida fest.
»Was?«
»Eine Volksrepublik«, wiederholte sie. »Wir haben hier auch eine Republik, allerdings die Republik Zypern, und um das Volk
kümmert sich keiner groß, so weit ich das verstehe.«
Jason sah sie belustigt an, kommentierte ihre Aussage jedoch nicht. Sie war wirklich sehr schön.
»Erzähl mir von dem Schiff«, forderte Elpida ihn auf. Und Jason tat, wie ihm geheißen.
Ein Schwammtaucher hatte das Schiff kürzlich entdeckt, und als den Leuten klar wurde, dass es womöglich aus der Zeit Alexander
des Großen stammte, waren sie außer sich vor Aufregung gewesen. In Begleitung einer Gruppe von Wissenschaftlern begutachtete
Jasons Vater die Fundstelle gerade mit einem Metalldetektor.
»Wenn es wirklich das ist, was sie hoffen – das älteste bekannte Handelsschiff –, dann wird nächstes Jahr ein Team aus Unterwasserarchäologen,
Studenten und Technikern herkommen, um die Lage jedes einzelnen Objekts zu dokumentieren, bevor sie alles aus dem Wasser holen.
Sie werden auch versuchen, das Schiff selbst zu bergen und es dann wahrscheinlich in ein Museum stellen – 2300 Jahre, nachdem
es gesunken ist. Das wird eine Ewigkeit dauern.«
»Also bleibst du dann eine Ewigkeit in Keryneia?«, fragte Elpida.
»Sieht ganz so aus«, antwortete Jason, und diese Aussicht erfreute Elpida. Da hörte sie, wie ihre Mutter sie aus dem Haus
zum Essen rief.
»Ich dachte, du heißt Artemis?«, fragte Jason. Elpida lachte zur Antwort und eilte ins Café.
Der Offizier führte die drei in ein Haus im Norden der Stadt. Das Glas war aus den Fenstern gebrochen, es gab keinen Strom
mehr, und das Gebäude war eindeutig bereits vor einiger Zeit verlassen worden. Seit Dezember 1963, vermutete Savvas.
»Wo sind die Türken?«, fragte Pieris, ein Bauernsohn aus Trimiklini.
»Da drüben«, antwortete der Offizier mit einer undeutlichen Handbewegung und ohne weitere Ausführungen. Da die Nacht
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