Schattentraeumer - Roman
Geschwister die hölzernen Barrikaden mit ihren veralteten Gewehren besetzten. Dem Inferno, das gekommen war, um
sie zu vertilgen, vermochten sie damit jedoch nur ins Gesicht zu spucken. Kophinou wurde bombardiert, bis überall die Flammen
loderten und alle Mütterzum Schweigen gebracht waren. Um einundzwanzig Uhr fiel das Dorf – am Ende, erschöpft und geschlagen. Jungen und Männer lagen
tot auf der Erde, auf den Türschwellen brannten Leichen wie Fackeln, und im Herzen des türkischen Dorfes brüllten griechische
Stimmen ihren Sieg heraus.
Die Soldaten zogen von Haus zu Haus und sammelten ihre Kriegsbeute ein. Sie trieben die verstörten Dorfbewohner ins Krankenhaus
und ins Kaffeehaus und bewachten sie dort die ganze Nacht hindurch mit Gewehren im Anschlag. Im Morgengrauen verschwanden
die Griechen dann so plötzlich, wie sie gekommen waren.
»Nun konnten wir unsere Toten begraben«, erzählte die Frau ruhig. Ihre Finger waren verschorft, sie hatte Kratzer am Hals.
»Doch tagelang war ich selbst so gut wie tot. Die Trauer war zu groß. Ich konnte nicht verstehen, was ihr uns angetan habt.
Erst später wurde ich vom Feuer verschlungen. Was geschehen ist, ist geschehen, aber ich werde niemals vergeben, und ich werden
niemals vergessen. Mein Ehemann und mein Sohn sind bei der Verteidigung unseres Dorfes gefallen. Jetzt sind sie Märtyrer,
Helden. Ihr wolltet uns zerstören, aber ihr habt uns Ehre und Stolz gebracht.«
Als die Frau geendet hatte, legte Michalakis sein Notizbuch beiseite und bedankte sich. Sie gab sich keine Mühe, die Verachtung
in ihrem Blick zu verbergen, in ihrer Gegenwart schrumpfte Michalakis in sich zusammen. Als er fortging, war er erleichtert,
dass er bei dem Massaker nicht dabei gewesen war, doch ihm war schmerzlich bewusst, dass er es einer Fügung des Schicksals
und nicht seiner eigenen Entscheidung zu verdanken hatte. Wenn er immer noch in der Nationalgarde gewesen wäre, hätte er den
Mut gehabt, den Befehl zu verweigern? Er vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen. Das Einzige, was er tun konnte, war,
die Geschichte der Frau wahrheitsgetreu aufzuschreiben. Das wäre noch ein paar Wochen zuvor undenkbar gewesen, inzwischen
aber hatte sich im Handumdrehen alles verändert.
In seiner Eile, Kophinou zu erobern, war Grivas einer katastrophalen Fehleinschätzung unterlegen. Die Schnelligkeit der Operation
hatte die Türkei überraschend getroffen, und ihr rasches Ende milderte den Zorn der Türken nicht. Ankaras Geduld war am Ende,
immer lauter ertönte der Ruf nicht nur nach einer Intervention in Zypern, sondern auch nach einem Krieg gegen Griechenland.
Auf großen Demonstrationen wurde die Kampfansage bekräftigt, und türkische Düsenflugzeuge ließen ihre Absichten donnernd über
der Insel ertönen. Die Bedrohung galt als so ernst, dass Großbritannien seine Leute auf der Militärbasis Dhekelia sammelte
und sich auf ihre Evakuierung vorbereitete. Während die Regierungen auf der ganzen Welt die Situation in Zypern voller Besorgnis
beobachteten und Griechenland bei der Aussicht auf einen echten Krieg zurückschreckte, verlangte die Türkei, dass Grivas von
der Insel verbannt würde, um in Athen in seinem eigenen Hass zu verfaulen. Außerdem bestanden die Türken darauf, dass die
Griechen ihre Besatzung aus Zypern abzögen, bis auf das Bataillon von neunhundertfünfzig Mann, das ihnen der Garantievertrag
zusicherte; dass die Nationalgarde aufgelöst würde, die illegalen tschechischen Waffen sichergestellt würden und die türkischen
Zyprer eine Entschädigung bekämen. Es gab keinen Handlungsspielraum: Die türkische Bedrohung war äußerst real, und die Möglichkeiten,
sie abzuwehren, waren gering. Widerstrebend holten die Griechen also ihre Soldaten nach Hause, die geschmuggelten Waffen wurden
übergeben, die Sanktionen gegen türkische Zyprer aufgehoben und Grivas ein zweites Mal ins Exil geschickt und in Athen unter
Hausarrest gestellt. Nur die Nationalgarde überlebte unbeschadet. Und obwohl auch die Türkei Truppen abzog, welche die Insel
unterwandert hatten, zahlten die Griechen einen hohen Preis für Grivas’ Unbesonnenheit. Die Junta beorderte mehr als zehntausend
Soldaten zurück, verlor ihren Halt und Einfluss auf der Insel und war obendrein zutiefst gedemütigt worden. Einzig Makarios
ging als Sieger hervor, da seine Macht dank der Verbannungseines ehemaligen Verbündeten nicht länger bedroht
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