Schattentraeumer - Roman
war.
Yiannis wusste noch nicht, wie er Praxi dazu bringen würde, zu ihrer Mutter zurückzugehen, nahm aber an, dass sie dafür zugänglich
sein würde, welche Ausrede auch immer er verwendete. Sie führte das Café mit Freude, das zeigten ihm allein die Einnahmen,
aber er wusste auch, dass sie es vor allem deshalb gern machte, weil er nicht da war. Das größte Problem stellte also Elpida
dar – und ihre merkwürdige Anhänglichkeit an diesen britischen Jungen.
»Das kannst du vergessen, Papa«, entgegnete sie, als er beiläufig eine Rückkehr ins Dorf vorschlug.
»Junge Dame, du tust, was man dir sagt.«
»Ach ja?«, fragte Elpida, und die Verachtung in ihrer Stimme ließ ihn verzweifeln.
Seine Tochter war in seiner Abwesenheit launisch geworden. Da sie erst zehn Jahre alt war, konnte er ihre Unverschämtheit
noch nicht ihren Hormonen zuschreiben, und nur seine Schuldgefühle hielten ihn davon ab, ihr eine Ohrfeige zu geben. Voller
Schrecken sah er seine Schwäche in Elpidas unbeugsamem Blick gespiegelt. Dennoch konnte er auch sein Verlangen nicht verleugnen.
Aber noch während er mit sich um eine Lösung rang, die sowohl seine Tochter als auch seinen Liebhaber zufriedenstellte, wurde
der jugendliche Störenfried, der Elpidas Herz gewonnen hatte, in die Sicherheit der Militärbasis Dhekelia gebracht, und für
Yiannis stellte es keinen Vorteil mehr dar, das Haus zurückzubekommen, da auch Victor versetzt wurde.
Er erfuhr die Neuigkeit in einem schmerzhaft kurzen Telefonat, das zu Yiannis’ Bestürzung in jeder Hinsicht distanziert war.
Er hörte Wut und Ärger, indes lag in Victors Worten kein Hinweis auf einen größeren Verlust. Und als er endlich all seinen
Mut zusammennahm, um ihn zu fragen, da hatte Victor schon wieder aufgelegt.
»Wann sehe ich dich wieder?«, krächzte er. Er bekam nur ein Piepen als Antwort, bis die Leitung schließlich tot war.
Eine Woche später erhielt er einen Brief.
Nun, alter Freund, das war’s. Mein Flieger geht in einer Stunde, und dann wird ein Ozean zwischen uns und unseren großen Träumen
von enosis liegen. Kannst Du glauben, dass es so weit gekommen ist? Ich stehe wohl immer noch unter Schock, wie die Ärzte
es nennen, und kann es auch in den Augen all der anderen Männer hier erkennen. Egal, was die Welt uns vorwirft, wir haben
für etwas gekämpft, an das wir glauben: für den Ruhm Griechenlands, den Schutz Zyperns und unseres Volkes. Ich weiß, dass
Du, vielleicht mehr als die meisten, unseren kollektiven Schmerz und die Traurigkeit der Situation, in der wir uns befinden,
verspürst. Gemeinsam und getrennt sind wir immer auf dem gleichen Weg marschiert, der nun vor unseren Augen wegbricht. Wir
haben alles verloren, und ich glaube nicht, dass ich mich in meinem ganzen Leben schon einmal so elend und verraten gefühlt
habe. Wohin führt uns unser Weg jetzt? Wohin können wir uns wenden? Auf diese Fragen habe ich keine Antworten. Noch nicht.
Wir bluten, doch wir sind noch nicht tot. Yiannis, der Tag wird kommen, an dem wir wieder als Brüder und Griechen vereint
sein werden. Doch zunächst, so schrecklich die Realität auch sein mag, müssen wir in unser altes Leben zurückkehren und diesen
niederschmetternden Moment in unserer beider Geschichte einfach überstehen. Vertraue mir, wir werden die Scherben aufsammeln,
und wir werden siegreich sein. Du darfst Deinen Glauben nicht verlieren. Griechenland und ich sind für Dich da. Ich stelle
mir gerade beim Schreiben vor, wie Du die Stirn runzelst. Vielleicht fällt es Dir schwer, mir zu glauben, da ich Dich nicht
immer so behandelt habe, wie Du es erwartet oder gehofft hast, und ich habe erkannt, dass Dich die Härte meiner Worte manchmal
verletzt hat. Aber Du musst wissen, dass ich meine Zeit mit Dir verbracht habe, weil ich es so wollte. Du bist die größte
Quelle des Glücks, die ich von dieser Insel mitnehme. Dein Victor.
Yiannis faltete den Brief sorgfältig, steckte ihn in die Brusttasche direkt über seinem Herzen, tätschelte sie einmal zärtlich
und versuchte dann weiterzuarbeiten. Doch nur Sekunden später zogen ihn die Worte wieder magisch an, und nach drei Tagen waren
die Seiten so oft gefaltet worden, dass sie in seinen groben Händen zu zerfallen drohten. Aber mit jedem Lesen wuchs seine
Entschlossenheit, bis er sich schließlich zu Praxi und seiner Tochter an den Esstisch setzte. Zu ihrer tiefen Bestürzung teilte
er ihnen mit, dass
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