Schattentraeumer - Roman
sie nach Griechenland umziehen würden.
In dieser Nacht, nachdem Elpida sich in den Schlaf geweint hatte und Yiannis, wenn auch in stiller Abgeschiedenheit, ihrem
Beispiel gefolgt war, nahm Praxi ihren roten Schal von der Tür und verließ die Perle von Keryneia über die Außentreppe. Auf
der Straße traf die Kälte sie wie eine Wand, und sie wickelte den Schal enger um sich. Die weiche Wolle roch nach ihrem Parfüm
und verfing sich in ihrem Haar, das sie absichtlich offen trug.
Im Gegensatz zum letzten Mal waren ihre Schritte langsam, aber fest. Diesmal wurde sie von keinem Sturm vorangetrieben. Sie
hatte keine Angst. Und sie konnte sich an keinen Moment größerer Klarheit erinnern. Die Vorwürfe, die sie bislang gequält
hatten, waren verstummt, und die Schande hatte nicht mehr die beängstigende Macht von einst. Wenn sie die Wahl hatte zwischen
nichts und allem, das befleckt von Schande war, dann würde sie Letzteres wählen.
Sie drückte den Griff der Tür hinunter, da sie wusste, dass sie nicht abgeschlossen sein würde. Als sie das Zimmer betrat,
merkte sie, wie seine Gestalt sich mit einem Ruck auf dem Metallbett am anderen Ende des Raumes umdrehte. Sie konnte mehr
hören als sehen, wie seine Hand nach dem Gewehr griff.
»Praxi?«
Mit einem Kratzgeräusch entzündete sich ein Streichholz. Während die Flamme in seinen Fingern zitterte und erstarb, trat er
vorwärts. Sie roch den moschusartigen Duft des Schlafes,den seine nackte Brust verströmte, und biss sich auf die Lippen. Im Dunkeln wurden seine Gesichtszüge erkennbar, und seine
schwarzen Augen versprachen eine Zeit ohne Ende. Sie ließ ihren Schal von den Schultern fallen. Eilig knöpfte sie ihr Kleid
auf, bevor sie nach seinem Gesicht tastete.
»Jetzt ist es mir egal«, flüsterte sie. »Was auch immer du willst, ich werde es tun.«
Dhespina hob den Kopf ihres Sohnes so weit an, dass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen,
und sein Kiefer zuckte vor Anstrengung. Sie brachte ihre Lippen an seine Stirn. »Atme, Loukis, atme mit mir. Ich bin für dich
da. Ich werde immer da sein.«
Loukis stöhnte.
Eine Stunde zuvor hatte Dhespina den Staub von Mehmets und Pembes Veranda gefegt und sich dabei träge gefragt, wie Maria wohl
in ihre Familie passen würde, nachdem Michalakis ihr nun einen Antrag gemacht hatte. Da taumelte Loukis ihr entgegen.
»Es muss aufhören«, war alles, was er hervorbrachte. Und statt eilig Eimer und Kräuter herbeizuholen, führte Dhespina ihren
Sohn in sein Haus und zog die Vorhänge zu.
Sie setzten sich im Halbdunkel des Zimmers auf den Fußboden, und Dhespina bat ihn um eine Erklärung. Genötigt, seine Ängste
in Worte zu fassen, wurde sein Atem ruhiger und sein Blick fester. Dhespina war kaum verwundert, dass die Geschichte mit Praxi
begann.
»Mein ganzes Leben lang habe ich sie geliebt«, sagte er leise. »Ich bin zufrieden damit, in ihrem Schatten zu leben, wenn
er sie nur bei mir lässt.«
»Und wenn sie nach Griechenland geht?«
»Sie wird nicht gehen.«
»Sie muss, Loukis.«
»Vorher bringe ich ihn um.«
Dhespina sah ihren Sohn prüfend an. Sie konnte keine Wut inseinen Zügen entdecken. Er sprach mit Gewissheit und Klarheit. Und sie glaubte ihm.
»Du kannst Yiannis nicht umbringen«, sagte sie.
»Wieso, willst du es tun?«
»Loukis! Du kannst einen Mann nicht einfach umbringen, nur weil er dir im Weg steht. Willst du den Rest deines Lebens hinter
Gittern verbringen?«
»Mamma, das hier ist Zypern. Hier entkommen Mörder täglich dem Gefängnis.« Dhespina schüttelte zornig die Schultern ihres
Sohnes. »Um Himmels willen, ich weiß doch, dass ich Yiannis nicht umbringen kann«, gab Loukis knurrend zu. »Aber ich kann
nicht ohne Praxi leben. Ich will nicht ohne sie leben. Wenn sie fortginge, wenn sie und Elpida fortgingen – ich würde zugrunde
gehen.«
»Was hast du also vor?«
»Das Land verlassen.«
Bei seinen Worten zog sich Dhespinas Herz zusammen. Zu ihrer heimlichen Schande war sie weniger betroffen gewesen, als Loukis
von Mord gesprochen hatte. Sie kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen traten.
»Ja, ihr könntet das Land verlassen«, stimmte sie zu. »Aber wohin würdet ihr gehen?«
»England?«
»Das ließe sich wohl machen«, gab sie zu. Trotz der turbulenten Geschichte der beiden Länder hatten Tausende Zyprer sich in
den letzten Jahren auf diese Reise begeben, Georgios’ Cousin
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