Schattentraeumer - Roman
einer Möglichkeit gewesen, der sie nach Keryneia gelockt hatte.
Nach langen Diskussionen, Verzögerungen und Enttäuschungen war die Grenze im April 2003 geöffnet worden. Zum ersten Mal seit
dreißig Jahren konnten die Menschen auf beiden Seiten die jeweils andere bereisen. Als Michalakis seine Mutter, Marios und
Praxi zum Grenzübergang in Agios Dometios fuhr, war die Stimmung von Freude, Wut und Trauer zugleich geprägt.
Dhespina, ergraut und vom Alter gebeugt, hielt die Augen weit offen und den Mund geschlossen. Die widersprüchlichsten Gefühle
drängten sich ihr auf, und zeitweise fiel ihr das Atmen schwer. Nachdem ihr Pass schließlich den Stempel der Türkischen Republik
Nordzyperns trug, fühlte sie sich wie eine Verräterin, als hätte sie im Grunde das Verbrechen legitimiert. Vor ihr weinte
ein alter Mann vor Scham. Blind vor Tränen musste er von einer Frau, vermutlich seiner Tochter, zum Wagen zurückgebracht werden.
Hinter der Kontrollstelle steigerte der Anblick der Umgebung Dhespinas Bestürzung nur noch. Auf trockenen gelben Feldern standen
reizlose rechteckige Wohnblöcke. Die Straße nach Norden wurde von großen Reklametafeln für Spielcasinos gesäumt. Alte Autos
kamen vor antiquierten Ampeln zum Stehen. Armut zog sich über die ausgedörrte Landschaft – und über allem wehten die rotweiße
Flagge der Türkei und die Flagge Nordzyperns, auf der nur die Farben umgekehrt waren.
»Die Türken haben uns unser Land genommen, aber sie haben sich nicht darum gekümmert«, bemerkte Praxi mürrisch. Keiner ihrer
Mitfahrer erwiderte etwas, doch Marios drückte sanft ihre Hand.
Sie fuhren weiter durch die Berge, die St. Hilarion umgaben, und Michalakis sah mehr aus Gewohnheit denn aus Angst argwöhnisch
in Richtung Burg. Er wusste, dass dort schon längst keine Scharfschützen mehr lauerten, aber alte Gewohnheiten lassen sich
nur schwer ablegen.
Wir vergessen nicht.
Hinter der Kurve wurde der Wagen von der Weite des blauen Himmels und des glitzernden Meeres empfangen. Dhespina tat einen
tiefen Seufzer, aus dem ihre ganze, so lange unterdrückte Sehnsucht sprach. Michalakis trat auf die Bremse, denn auch sein
Blick begann zu verschwimmen. Jahrzehntelang hatten sie auf diesen Moment gewartet, und auch wenn die Gebäude sich nun die
gesamte Küste entlangzogen und das türkische Straßenschild Girne anzeigte, war es doch immer noch Keryneia, die Perle Zyperns.
Sie fuhren am Hafen vorbei und setzten ihre Reise zu dem Ort fort, auf den der lange Schatten der Burg fiel. Sie bogen rechts
von der Hauptstraße ab und erreichten im Schritttempo das Dorf. Es war bemerkenswert, dass alles noch fast genauso aussah
wie bei ihrer Abreise, nur kleiner. Wie erwartet, gab es das griechische Kaffeehaus nicht mehr, an seiner Stelle hatte ein
Lebensmittelladen aufgemacht. Doch die Bäckerei war noch da, ebenso die Metzgerei. Tatsächlich hatte sich so gut wie nichts
verändert, wenn man von den Gesichtern der Leute absah, die nun größtenteils anatolische Züge hatten.
Als der Wagen zum Stehen kam, hielten alle den Atem an. Trotz ihres Alters war es Dhespina, die sich als Erste ein Herz fasste.
Vorsichtig stieg sie aus dem Auto und trocknete sich mit einem Taschentuch das Gesicht. Mit einem prüfenden Blick stellte
sie fest, dass die Pflanzen mehr durch die Sommerhitze als durch Vernachlässigung ausgetrocknet waren, und sie musstedem Drang widerstehen, einen Eimer Wasser zu suchen und sie zu versorgen. Unsicher folgte sie dem Weg zum Haus. Das Knirschen
des Kieses war ihr schmerzlich vertraut, und die Haustür stand offen. Eine adrett und sauber gekleidete Frau hatte ihre Ankunft
beobachtet.
»Ich habe Sie erwartet«, sagte sie schlicht. Sie sprach Griechisch, und Dhespina fühlte sich ein wenig erleichtert, dass die
neuen Bewohner ihres Hauses ebenfalls von der Insel stammten.
Auch wenn sie ihnen kein Willkommenslächeln schenkte, bat die Frau sie doch herein und lud sie ein, auf Stühlen Platz zu nehmen,
die einst ihre eigenen gewesen waren. Dann ließ sie die vier allein und kochte Kaffee in einem Topf, der einmal Dhespina gehört
hatte. In einer Ecke stand ein großer Fernseher vor einem hellroten Sofa, und an der Wand bewahrte eine billige Anrichte verziertes
Geschirr auf. Alles andere war unverändert geblieben, was den Eindruck des Diebstahls noch verstärkte.
Bei Kaffee und Gebäck fragte die türkische Zyprerin sie nach ihrer Reise und woher sie
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