Schattentraeumer - Roman
gekommen waren. Sie selbst war ebenfalls
aus ihrer Heimat geflohen und erkannte den Schmerz wieder, den sie in den Augen dieser Menschen las, die nun als Gäste in
einem Haus saßen, das einst ihnen gehört hatte. Doch sie entschuldigte sich nicht. Und sie betonte, dass sie nicht vorhabe,
dieselbe Pilgerreise gen Süden anzutreten.
»Es gibt Dinge, die man besser hinter sich lässt«, bemerkte sie traurig und verwirrt.
Als ihnen der Gesprächsstoff ausging, ging die Frau zu einem Schrank, aus dem sie eine kleine Kiste holte. Sie überreichte
sie Dhespina. In der Kiste befanden sich die Ikonen und Bilder, die ehemals die Wand geschmückt hatten, sowie Michalakis’
Zeitungsartikel, säuberlich zusammengefaltet und für den Augenblick aufbewahrt, an dem man sie zurückfordern würde. Zuoberst
lag ein Foto von Dhespinas Mutter, es hatte einst die Tür ihres Gartenhäuschens geziert und sie von dort aus behütet. Mit
zitternden Fingern ging Dhespina die Sammlung von Erinnerungendurch, bis sie auf ein körniges Foto von Loukis stieß. Es war in Mehmets Olivenhain entstanden, Loukis lächelte darauf ein
wenig schief, während er sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn wischte. Dhespina hielt es der Frau hin.
»Haben Sie meinen Sohn gesehen?«, fragte sie.
»Haben Sie meinen Vater gesehen?«, gab die Frau zurück.
Die beiden Frauen sahen sich an und erkannten den Irrsinn ihrer Situation im Blick der anderen. Dhespina seufzte und reichte
Praxi das Foto. Loukis’ Gesicht verschwamm schnell hinter einem Strom von Tränen; er war noch schöner, als sie ihn in Erinnerung
hatte.
Als alles gesagt war, was ohne zu beleidigen gesagt werden konnte, dankte die Familie der Frau dafür, dass sie sich Zeit für
sie genommen und ihre Erinnerungen aufbewahrt hatte. Wortlos setzten sie ihre Reise fort.
Ein paar hundert Meter entfernt hielten sie vor Mehmets Hof an. Das Haus des alten Mannes war ausgebaut worden, und in einer
neuen Einfahrt parkten zwei Autos, während der Traktor neben einem Schuppen vor sich hin rostete. Als sie sich näherten, öffnete
sich plötzlich die Tür von Loukis’ Haus, und Dhespina geriet ins Straucheln. Doch der Mann, der heraustrat, war nicht einmal
zwanzig, viel jünger als Loukis, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, außerdem viel kleiner und schmaler. Er rief etwas
auf Türkisch. Als er keine Antwort bekam, ging er in Mehmets Haus. Sekunden später trat eine große, ältere Frau zu ihnen heraus.
»Frau Economidou?«, fragte sie, und Dhespina nickte. Die Frau lächelte sie freundlich an.
»Mein Vater war ein Freund Ihrer Familie«, erklärte sie.
Obwohl sie darauf eingestellt gewesen waren, versetzte ihr Gebrauch der Vergangenheitsform allen einen Stich. Praxi ertrug
es nicht länger. Zu viel hatte sich verändert, sie hatte das Gefühl, dass die Zeit ihr zwischen den Fingern zerrann. Sie ergriff
die Hände der Frau und flehte sie um eine Nachricht vonLoukis an. Verwirrt und sichtlich erschüttert ließ die Frau den Kopf sinken.
»Wir dachten – wir hofften –, dass Sie alle im Süden sind«, brachte sie hervor, bevor Praxi auf dem Absatz kehrtmachte und
Michalakis aufforderte, sie an den Hafen zu fahren.
»Es liegt nicht an Ihnen, es ist …«, versuchte Praxi sich zu entschuldigen, doch ihr fehlten die Worte. Als sie sich vom Haus
entfernte, strich Dhespina ihr sanft über den Arm.
Michalakis parkte den Wagen ein Stück vom Hafen entfernt. Der Weg vor ihnen war gepflastert und nur für Fußgänger zugänglich.
»Ist schon sinnvoll«, murmelte er.
Doch Praxi befand sich in einem Zustand jenseits von Sinn und Verstand und konnte kaum ein Wort verstehen über dem Blut, das
dröhnend durch ihre Adern rauschte.
Sie war so nahe dran, dass die Angst vor der kommenden Enttäuschung ihr die Luft abzuschnüren schien. Isoliert im Süden war
es leichter gewesen, sich einzureden, dass Loukis noch am Leben sein könnte, gefangen in einer Welt, der er nicht entkommen
konnte, womöglich betäubt von Amnesie oder zum Invaliden gemacht durch eine Verletzung, die er nicht offenbaren wollte. Doch
nun, vor dem Fischrestaurant, das einmal ihr Café gewesen war, unter der Sonne, die die tiefen Furchen in ihrem Gesicht erbarmungslos
ausleuchtete, inmitten von Menschen, die in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit lebten, erkannte Praxi, dass es nahezu
vergebens war. Doch da war noch immer dieses Fünkchen Hoffnung, das sie zu verhöhnen
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