Schattentraeumer - Roman
hier einfach nicht.«
Nach Elenas Beerdigung betete Praxi dafür, dass, auch wenn die Knochen ihrer Mutter »hier« feststecken mochten, ihre Seele
von »dort« aus den Weg in den Himmel angetreten hatte.
Im Jahr darauf fand Praxi sich erneut auf einer Beerdigung wieder, nachdem Christakis zu ihrer aller Entsetzen in seiner Werkstatt
zusammengebrochen war. Die Ärzte taten alles, um ihn zu retten – vergeblich. Yianoulla wurde zur Witwe. Auch wenn niemand
es aussprach, hatten alle das Gefühl, dass die Vergangenheit daran schuld war. Christakis hatte nie von seiner Gefangenschaft
geredet, aber seine Erlebnisse hatten ihm einen Schaden zugefügt, der nicht wiedergutzumachen war. Seine große Statur war
gebeugt von den Schrecken, die er gesehen und erlitten hatte. Seine Söhne erzählten manchmal etwas von Soldaten, die in doppelten
Reihen angestanden hatten, um sie zu schlagen, aber das Einzige, was Christakis jemals verlauten ließ, war, dass ihr Hass
groß gewesen sei. Nach einer Weile hatte ihn der Schmerz der Erinnerung umgebracht.
Wir vergessen nicht.
Das Telefon klingelte, es war Michalakis. Praxi setzte sich auf den Stuhl im Flur, da sie sich auf ein längeres Gespräch gefasst
machte. Dem Mann fiel es nicht leicht, sich damit abzufinden, dass er seit kurzem in Rente war, und die Häufigkeit seiner
Anrufe ließ darauf schließen, dass er sich nach Ablenkung sehnte – und sie war ihm dankbar dafür. Sie hatte im Laufe der Zeit
so viele Menschen verloren, dass die Zuwendung derer, die ihr geblieben waren, umso kostbarer wurde.
Während sie das Telefonkabel um ihre Finger wickelte, versicherte Praxi Michalakis, dass es ihr gutgehe. Nein, entschuldigtesie sich, sie werde es nicht schaffen, ihnen dieses Wochenende einen Besuch abzustatten, aber sie bat ihn, dem kleinen Christakis
einen Kuss von ihr zu geben. Als sie den Hörer nur fünfzehn Minuten später wieder auflegte, wurde ihre Entschlossenheit von
Schuldgefühlen ins Wanken gebracht. Der Geburtstag seines Enkelsohnes würde nach den letzten zwei trüben Monaten ein seltenes
Vergnügen für ihn darstellen, doch sie wollte ihre Pläne nicht mehr ändern.
Neben Marios mit seinen vielen mehrsprachigen Nachkommen war Michalakis vielleicht der Glücklichste von ihnen allen. Die Ansichten
im Land hatten sich im Laufe der Zeit gewandelt, vielleicht, um die Auswirkung des größeren Leids abzumildern, und die Freiheit
der Ehescheidung hatte es Michalakis erlaubt, seine Liebe zu Varnavia zu leben, der Schwester von Savvas, dem Trauzeugen seiner
ersten Hochzeit. Varnavia war bei weitem nicht so schön wie Maria, doch sie machte die mangelnde Schönheit mit einem messerscharfen
Verstand wett, und Michalakis war schon verloren gewesen, als die Tinte auf seinen Scheidungspapieren kaum getrocknet war.
Das Letzte, was Praxi von Maria gehört hatte, war, dass sie in die Vereinigten Staaten gezogen war, um einen Schönheitschirurgen
zu heiraten. Sie bekamen keine Kinder, doch alle fünf Jahre entschädigte ihr Ehemann sie dafür mit einem Paar neuer Brüste.
Seit zu Hause keine Begegnung mehr mit Maria drohte, hatte Michalakis gelernt, das Leben außerhalb des Büros zu genießen.
Natürlich blieb er der Zeitung verbunden, doch mit der richtigen Gefährtin gelang es ihm, eine gesunde Balance zu finden.
1977, kurz nachdem sein Chef in den Ruhestand gegangen und Erzbischof Makarios gestorben war, wurde er zum Herausgeber der
Stimme
befördert. Es erschien ihm irgendwie passend, dass sein letzter Auftrag als Reporter ihn auf die Beerdigung des Präsidenten
führte – war er doch beim letzten Anschlag auf das Leben des Erzbischofs ebenfalls zugegen gewesen.
Erzbischof Makarios III. war der erste Präsident der Republik Zypern gewesen, und neben hundertzweiundachtzigWürdenträgern aus zweiundfünfzig Ländern begleitete die halbe griechische Bevölkerung der Insel seinen Sarg in einem Trauermarsch
zu seiner letzten Ruhestätte. Ärzte entnahmen ihm zwar das Herz, um es auf Gift zu untersuchen, doch Elena wusste es besser:
Sie sagte voraus, dass sie es sauber, aber unheilbar gebrochen vorfinden würden. Praxi erwiderte nichts, wusste aber, dass
das Unsinn war. Seit dreiunddreißig Jahren war ihr eigenes Herz von Kummer gebrochen. Es war ihre bittere Erfahrung, dass
das Herz niemals aufgab, so lange noch ein winziges Fünkchen Hoffnung übrig war: Der Körper lebte weiter. Und vor vier Jahren
war es dieser Hauch
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