Schattentraeumer - Roman
Bitte, nehmt ihn mir nicht weg. Noch nicht … Nicos! Mein Sohn! Bitte, mein Sohn! Nehmt mir meinen Sohn nicht
weg!«
Christakis und Michalakis nahmen ihre Mutter in die Mitte, zwei riesige Pfeiler, die sie vor dem Kummer zu schützen versuchten,
an dem sie zu zerbrechen drohte. Obwohl aus den Jungen schon vor langer Zeit Männer geworden waren, nahmen sie heute zum ersten
Mal den Platz ihrer Eltern ein, und die Ruhe und Würde, mit der sie ihren eigenen Schmerz trugen, beeindruckte die Dorfbewohner,
die hinter ihnen standen. Als der Priester Olivenöl in das Grab goss und von jeder Ecke etwas Erde nahm, legte Marios den
Arm um seinen Vater, dessen Schultern vor haltlosem Schluchzen bebten. Georgios konnte das Mitgefühl in der Umarmung seines
Sohnes spüren, und er schämte sich. Eigentlich hätte er derjenige sein müssen, der seinen Kindern Trost spendete, aber seine
Kräfte hatten ihn verlassen, und so ergab er sich der Fürsorge seines Sohnes. Rechts vor dem Grab stand Loukis, bei seiner
Familie und doch allein. Aufrecht und mit starrem Blick sah er zu, wie die Erde in den offenen Sarg und auf das Gesicht seines
Bruders geworfen wurde. Praxi verließ den Platz an der Seite ihrer Mutter und trat vor zu ihm, um seine Hand zu nehmen. Loukis
blickte nichtauf, schloss einfach nur seine Finger um ihre, und sie weinte für ihn, da sie wusste, dass er es nicht tun würde.
Im Anschluss an die Beerdigung zog die Trauergemeinde in einer feierlichen Prozession zum Haus der Familie, um Trost aus der
pariorka
zu schöpfen – Brot, Oliven und Wein –, doch Praxi und Loukis stahlen sich davon, fort von der Traurigkeit, die ihren Schatten
über seine Familie gebreitet hatte. Hand in Hand liefen sie aus dem Dorf hinaus.
Sie überquerten die Straße nach Keryneia, stiegen Felsen hinauf, die sie schon tausend Mal erklommen hatten, kletterten höher
und höher, bis schließlich die Burg St. Hilarion ihren Schatten auf sie warf. Unter dem Pistazienbaum, den sie einst als Praxis
letzte Ruhestätte ausgesucht hatten, hielten sie inne. Keiner von ihnen sagte ein Wort, denn es bedurfte keiner Worte. Praxi
konnte Loukis’ Schmerz fühlen, als wäre es ihr eigener. Nichts konnte das Leid lindern, das seiner Familie zugefügt worden
war. Nichts konnte ihnen Nicos wiederbringen. Alles, was sie tun konnte, war für ihn da zu sein. Und so nahm sie, als Loukis
sein Gesicht in den Händen vergrub, sanft seine Finger und legte sie an ihr Gesicht. Ohne nachzudenken führte sie ihre Lippen
an seine und hauchte ihm ihre Liebe ein.
Als der Wind in ihren Haaren stärker wurde, fielen die ersten Tropfen. Sie liefen ihnen die Wangen hinab und tanzten auf ihren
Zungen, und der Geruch von Erde stieg vom Boden auf und hüllte sie ein. Die Insel reagierte auf ihren Verlust mit einer Zärtlichkeit,
die im Wind flüsterte, und küsste die beiden mit ihren ganz eigenen Tränen.
Im Schatten der Burg teilten Praxi und Loukis ihren Schmerz und bekämpften ihn gemeinsam mit hungrigen Lippen und unbeholfenen
Händen. Sie suchten in den Rundungen und Tiefen ihrer Körper nach einem Grund, und als er in sie eindrang, überließ sie sich
ihm mit Leidenschaft. Sie hatte keine Angst mehr, fort waren die Gedanken an die verdammende Kirche, welche die Furcht ihrer
Mutter nährte. Es gab nur noch das wilde Pochen ihrer Herzen, ihren warmen Atem in der kühlen Luft. Praxi bedeckteLoukis’ Gesicht mit Küssen und weinte hemmungslos, nicht vor seelischem oder körperlichem Schmerz, sondern weil sie ihn liebte.
Und während sie sich ihrer Liebe hingaben, waren sie nicht länger Praxi und Loukis, sie waren etwas anderes, Stärkeres. Sie
waren zusammen, und so sollte es sein.
Marios spürte das Holz unter seinen Fingern und lächelte. Er hatte gute Arbeit geleistet, als er die rauen Kanten mit der
Feile geglättet hatte, genau so, wie Christakis es ihm gezeigt hatte. »Schöne Arbeit«, sagte sein Bruder anerkennend, als
Marios ihm sein Werk zeigte. »Noch ein paar davon, und ich bringe dir bei, wie man ein Brett so hobelt, dass die Oberfläche
vollkommen glatt ist. Der Trick liegt in einem Stück Kreide.«
»Das wäre toll«, erwiderte Marios und ging zurück zu seinem Platz am Fenster. Hier in der Werkstatt seines Bruders war es
deutlich heller als im Arbeitsraum seines Vaters, und das gefiel ihm. Auch wenn er Georgios nur ungern etwas abschlug, so
konnte er sich doch nicht vorstellen, den Rest seines
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