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Schattentraeumer - Roman

Schattentraeumer - Roman

Titel: Schattentraeumer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Busfield
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Unkenntlichkeit entstellt, sein Leben an einem Brunnen ließ, dessen Wasser sich blutrot
     färbte. Es wollte Dhespina an diesem Tag nicht gelingen, die so seltenen Augenblicke der Ruhe zu genießen – ohne ihre Jungs,
     die das Haus mit Leben füllten, hallten ihre Schritte in den leeren Räumen plötzlich unheimlich wider. Sie ging in ihren Arbeitsraum
     im Garten hinüber, um sich einen Aufguss zu bereiten. Sie nahm gerade eine Schüssel vom Regal, als sie spürte, dass er kam.
    Sie hastete zurück zum Haus, und da sah sie ihn, er wollte gerade anklopfen. Er entdeckte sie und hielt inne. Es war der Chef
     der Firma Vassos Trade Suppliers in Keryneia. Es tue ihm leid, sagte er, und sie konnte sehen, dass es der Wahrheit entsprach.
     Es sei schrecklich, sagte er. Sie alle seien fassungslos, jeder Einzelne von ihnen. Und während er weiterstammelte, begann
     Dhespinas Herz in ihrer Brust zu hämmern. Ihr Körper wurde immer schwerer, ihre Knie weicher, ihr Puls raste schneller und
     schneller und klopfte so ohrenbetäubend in ihren Ohren, dass sie den Mann kaum mehr verstand. Da war der Soldat, der vom Fußballspiel.
     Sie kamen in die Stadt. Wut. Chaos. Sie wollten Rache. Sie fielen in Ammochostos ein, traten mit schweren Stiefeln gegen die
     Türen. Holz splitterte. Frauen schrien. Die Menschen hatten Angst, und dann der Hass, da war so viel Hass. Sie wurden auf
     Lastwagen geworfen, einer nach dem anderen, lagenübereinander, erdrückten sich, bekamen keine Luft mehr. Da war ein Haus. Drinnen waren ihre Jungs. Sie kamen, um zu suchen,
     sie kamen, um zu zerstören. Marios verstand nicht, was los war. Er hatte Angst, aber er war tapfer. Er versuchte die Frau
     zu beschützen, doch sie drückten ihn an die Wand und boxten ihm in den Bauch. Er war tapfer, so unendlich tapfer. Nicos wollte
     ihm helfen, da traf ihn ein Gewehrkolben ins Gesicht. Zwischen die Augen. Da war dieses Knacken. War es das Gewehr oder der
     Fußboden? Sein Kopf platzte auf. Das Leben floss aus ihm heraus. Sie konnten nichts für ihn tun, und es tat ihm leid. So schrecklich
     leid. Und er weinte.

3
    Sie kamen am frühen Nachmittag, um ihn zu holen.
    Dunkle Wolken hingen über dem Dorf, kündigten Regen an von einem Himmel, der die Farbe ihrer Kleidung angenommen hatte, und
     es war, wie es sein sollte: Die Sonne war fort, ihr Sohn war fort.
    Sie hatte die ganze Nacht bei ihm gesessen, den Blick starr auf den Sarg gerichtet, hatte wortlos seine Gegenwart in sich
     aufgesaugt, ihn angefleht aufzuwachen, die Augen aufzuschlagen und ihr zu sagen, dass alles gut sei, dass alles nur ein Scherz
     gewesen sei und es ihm leid tue. Doch es geschah nichts. Musste sie mit dieser Erinnerung weiterleben? Ihr schöner Sohn in
     einer Holzkiste, kalt und leblos, entstellt und getötet aus Hass? Wie hatte sie nur zulassen können, dass man ihm das antat
     – ihrem eigenen Fleisch und Blut, dem Baby, das so gedrängt hatte, aus ihrem Bauch zu schlüpfen, um seinem Bruder auf die
     Welt zu folgen? Ihrem Jungen, der der Sonne nachgejagt war und Licht in ihr aller Leben gebracht hatte? Wie konnte er fort
     sein? Über Nacht war ihr die Welt zuwider geworden, bar jeder Vernunft oder Hoffnung, und sie drohte daran zu ersticken. In
     weniger als vier Jahrzehnten war sie vom Mädchen zur Frau, zur Mutter, zur
miroloi
geworden – einer Frau, die Schwarz trägt. Es war zu früh. Es war nicht richtig. Sie sollte nicht hier sitzen, warum tat man
     ihr das an?
    Dhespinas Beine gaben nach, und sie brach in Christakis’ Armen zusammen.
    »Nein, bitte, bitte … nur noch ein paar Minuten, ich flehe euch an, bitte …« Blind vor Tränen griff sie nach dem Sarg, als
     der angehoben wurde, doch ihre Finger waren kraftlos, und ihrSohn entglitt ihren Händen. Wenn sie ihr doch nur mehr Zeit geben würden. Ein paar Tage nur, mehr nicht, nur ein bisschen
     Zeit, damit sie etwas unternehmen konnte. Sie war sich sicher, dass sie etwas finden würde, irgendetwas musste es geben. Irgendetwas,
     das ihn daran hinderte zu gehen, etwas, das ihn bleiben ließ, hier, bei seiner Familie, bei den Menschen, die ihn liebten,
     die ihn brauchten. Die Pflanzen – sie hatten ihre Geheimnisse. Sie würden ihr bestimmt helfen. Eine Salbe vielleicht oder
     eine Kräutermixtur und ein Duftwasser, irgendetwas, das verhindern würde, dass seine Wangen einfielen, etwas, das ihn unversehrt
     lassen, das ihn bleiben lassen würde – o Gott, das ihn hier bei ihr bleiben lassen würde.
    »Nein, bitte!

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