Schattentraeumer - Roman
Lebens damit zu verbringen, Schuhe für die Dorfbewohner oder am besten
noch für Esel anzufertigen. Vielleicht lag es am Leder. Es roch seltsam und fühlte sich leblos an zwischen seinen Fingern
– ganz anders als Holz. Einen alten Baum konnte man wieder zum Leben erwecken, man konnte daraus etwas Neues und Schönes schaffen.
Leder hingegen wirkte immer tot, ganz egal wie geschickt sein Vater war.
In den ersten Tagen nach Nicos’ Tod hatte sich Marios wirklich große Mühe gegeben, ein Schuster zu sein, denn Georgios brauchte
ihn. Außerdem wollte niemand, dass Marios zurück in das Lagerhaus ging. Doch dann war sein Vater zusammengebrochen. Er hatte
Marios gerade zeigen wollen, wie man Löcher in das Leder stanzte, als seine Finger angefangen hatten zu zittern. Kurz darauf
hatte er am ganzen Körper gezittert, als würde er von unsichtbaren Händen geschüttelt, bis er schließlich das Werkzeug beiseitelegen
und sich am Tisch festhalten musste.
In diesem Moment war Christakis hereingekommen. Er sahseinen Vater und bat Marios, draußen zu warten. Nach ungefähr zwanzig Minuten kam sein Bruder wieder heraus und erklärte Marios,
dass er ab sofort den Beruf des Tischlers erlernen würde, wenn er das wollte. Natürlich wollte er das. In Christakis’ Werkstatt
herrschte keine so drückende Stimmung; niemand weinte, und niemand machte verzweifelte Witze, über die keiner lachte. Dort
wurde einfach nur gearbeitet. Vormittags meißelte und schnitzte sein Bruder, wobei sich goldenes Holz zu seinen Füßen kräuselte,
und Marios erledigte konzentriert die Aufgaben, die man ihm übertrug. Um die Mittagszeit kam dann Christakis’ Frau Yianoulla
mit dem Baby Angelis auf dem Arm und drei Teller jonglierend zu ihnen. Gemeinsam setzten sie sich in die Sonne, die Brüder
verschlangen das Essen, das sie zubereitet hatte, und Angelis spielte auf dem Schoß seines Vaters, zog ihn mit Begeisterung
am Bart und lachte. Hin und wieder machte Yianoulla Bratkartoffeln, die einem auf der Zunge zergingen, und einmal hatte sie
sogar Eis gemacht. Aber meistens gab es Käse und Brot, mit Olivenöl zum Tunken. Gestern hatte Christakis seiner Frau allerdings
gesagt, dass sie nun aufhören solle, sie zu bedienen, da das Baby in ihrem Bauch immer größer wurde, aber sie hatte nur gelacht
und geantwortet, dass es ihre Aufgabe sei, sich um ihre Männer zu kümmern.
Marios fand seine Schwägerin nett und hübsch, und er hoffte für sie, dass sie diesmal ein kleines Mädchen zur Welt bringen
würde, keinen weiteren Jungen. Zypern war gefährlich für Jungs. Sie wurden groß und starben.
Gegen vier Uhr schickte Christakis seinen Bruder immer nach Hause, was Marios sehr recht war, denn unabhängig von der Jahreszeit
und vom Wetter stand die Sonne um diese Zeit noch hoch am Himmel, und ihm blieb genug Zeit, um ins Dorf zu laufen und Nicos
zu besuchen, bevor er zu seinen Eltern ging. Obwohl Nicos tot war, hatte er ihn in Wirklichkeit nie verlassen, Marios konnte
ihn spüren. Er nahm an, dass das mit dem einen Ei zu tun hatte, aus dem sie beide stammten, und vermutlich auch damit, dass
er nie aufgehört hatte, hinzuhören.Immer wenn er sich zu Nicos ans Grab setzte, um ihm von seinem Tag und all den Dingen zu erzählen, die er gelernt hatte, hörte
er seinen Bruder Fragen stellen und gab ihm ehrliche Antworten. Heute Abend würde er von Christakis’ Versprechen erzählen,
ihm zu zeigen, wie man Bretter ordentlich hobelte. Nicos würde das gefallen, er wäre bestimmt beeindruckt.
Es war wirklich schade, dass seine Eltern Nicos nicht mehr spürten, denn wenn sie das täten, könnten ihre Tränen endlich trocknen,
und sie würden aufhören, so alt zu werden. Für Marios war es so, als wäre ihr Papa in den letzten Wochen geschrumpft. Langsam
und unsicher war er geworden, und an dem Morgen, nachdem sie Nicos in sein neues Bett gelegt hatten, war ihre Mamma mit einer
grauen Haarsträhne aufgewacht, die seitlich neben ihrem Gesicht verlief. Niemand sprach sie darauf an, was Marios seltsam
fand, doch er selbst sagte auch nichts, aus Angst, sie würden alle wieder anfangen zu weinen. Aber als er Nicos davon erzählte,
hörte er ihn laut lachen und entschied, nicht mehr darüber nachzudenken. Wenn er jetzt seine Mamma anschaute, sah er nicht
mehr die graue Strähne. Er hörte Nicos’ Lachen.
Yiannis kurbelte die Autoscheibe herunter und streckte seinen Kopf aus dem Fenster.
» Yassou
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