Schattentraeumer - Roman
ihr Ehemann bewusstlos daneben –, war er losgerannt, um den Arzt
zu holen. Danach hatte er entschieden, in der Nähe zu bleiben, um zu sehen, was passierte. Zwei Stunden später schließlich
übertönte der Schrei eines Babys die Schreie der Mutter, und der Arzt trat mit einem breiten Lächeln aus dem Haus – das Baby
sei wie ein geölter Blitz auf die Welt gekommen. Als er sich daranmachte, die Wunde an Yiannis’ Kopf zu versorgen, schlich
Marios zu Praxi ins Zimmer.
Praxi saß aufrecht im Bett, und sie sah schöner aus, fand Marios, als je zuvor. In ihren Armen hielt sie ein Bündel Decken,
und darin befand sich das winzigste Geschöpf, das Marios sich vorstellen konnte, zerknautscht, mit dunklen, funkelnden Augen
und flaumigen, tiefschwarzen Haaren.
»Was ist es?«, fragte er.
»Ein Mädchen«, sagte Praxi lächelnd und küsste ihr Baby zärtlich auf den Kopf. »Sie heißt Elpida.«
Als Marios die Kleine in seinen Armen wiegte – Praxi hatte es unbedingt gewollt –, kam er zu der Überzeugung, dass sie auf
der Welt keinen besseren Namen hätte wählen können, denn
elpida
bedeutete Hoffnung.
»Bestimmt betet sie, dass ihr Kind später mal nicht aussieht wie ihr Mann«, witzelte Nicos, als Marios an seinem Grab stand,
um ihm die Neuigkeit zu berichten.
»Was das betrifft, sehe ich keine Probleme«, erwiderte Marios. Auch wenn Yiannis nicht so blond war wie ihr Bruder Christakis,
waren seine Haare doch eher hell und seine Augen haselnussbraun. »Das Baby ist zu dunkel. Es sieht eher aus wie Praxi oder
wie einer von uns.«
»Uuh, Marios, was soll das denn heißen?«, neckte ihn sein toter Bruder, und Marios lief rot an.
»Halt die Klappe, Nicos, du Esel!«
Im selben Moment bereute Marios seine Worte und küsstezur Entschuldigung schnell den Grabstein, bevor er nach Hause aufbrach.
Als Elena von der Geburt ihres Enkelkinds erfuhr, griff sie rasch nach der kleinen Tasche mit Kleidung, die sie an der Tür
bereitgelegt hatte, und stürmte los in Richtung Stadt. Unterwegs begegnete sie Stavros, er war bei der Arbeit auf seinen Feldern,
und als sie ihm erzählte, weshalb sie es so eilig hatte, lud er sie ein, auf seinen neuen Traktor aufzuspringen. Elena graute
vor dem Aufsehen, das ihre Fahrt erregen könnte, doch ihre Beine waren alt geworden, und so nahm sie Stavros’ Angebot dankend
an.
Auf dem Weg nach Keryneia gab sich Stavros alle Mühe, über das höllische Rattern des Motors hinweg unverbindlich zu plaudern,
ohne dabei auf die Tatsache zu sprechen zu kommen, dass das Baby über einen Monat zu früh geboren war. Elena wusste seine
Rücksichtnahme sehr zu schätzen. Gott war ihr Zeuge, dass sie sich die Lippen wund geküsst hatte, um auch den letzten Heiligen
davon zu überzeugen, wie wichtig es war, die Geburt hinauszuzögern. So hätte der befleckte Ruf ihrer Tochter wenigstens ansatzweise
wiederhergestellt werden können. Jeder wusste, dass sich die ersten Kinder gern Zeit ließen, doch ihr frischgeborenes Enkelkind
hatte Praxi nicht einmal neun Monate Ehe gewährt. Sünder kamen eben niemals ungestraft davon, und nun würde ihre Tochter ihre
Lasterhaftigkeit mit einem Kind bezahlen, das die kränkliche Konstitution einer Frühgeburt besaß.
Vor dem Kaffeehaus ihres Schwiegersohns, dessen Eröffnung noch ausstand, half Stavros Elena vom Traktor. Sie bedankte sich
hastig und eilte die Außentreppe zu den Wohnräumen ihrer Tochter hinauf. Als sie das Schlafzimmer betrat, stellte sie mit
Bestürzung fest, dass die Fenster weit aufgerissen waren. Kranke brauchten Ruhe und Dunkelheit, goldenes Sonnenlicht war für
niemanden gut, am wenigsten für ein winziges Neugeborenes.
Praxi war gerade dabei, ihre Tochter nach dem Stillen in ihr Bettchen zu legen. Yiannis gab seiner Schwiegermutter einen Begrüßungskuss
und ließ die beiden Frauen allein, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten, während er sich unten um sein Geschäft kümmerte.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, tat Elena ein paar entschiedene Schritte auf die Wiege zu. Beim Anblick ihrer
Enkelin stockte ihr vor Entsetzen der Atem: Sie sah aus wie das blühende Leben, hatte strahlende, wache Augen und volle rosige
Wangen. Mit voller Wucht traf Elena das Ausmaß von Praxis Schande, fassungslos trat sie vor ihre Tochter und verpasste ihr
eine schallende Ohrfeige.
Schweigend nahm Praxi den Zorn ihrer Mutter hin, eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange. Elena
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