Schattentraeumer - Roman
nahm Loukis’ Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihn stürmisch auf Stirn und Wangen.
»Mein Gott, Junge, wie wir dich vermisst haben«, sagte er. Seine Rührung überwältigte ihn beinahe. »Wo zum Teufel hast du
die ganze Zeit gesteckt?«
»Nicht jetzt, Georgios«, bestimmte Dhespina. »Wir haben noch genug Zeit zum Reden. Jetzt will ich erst einmal feiern, dass
ich meinen Sohn wiederhabe!«
Loukis sah seine Mutter an, und sie erkannte die Dankbarkeit in seinem Blick. Sogleich schüttelte sie die lähmende Freude
von sich ab und machte sich daran, alle Vorbereitungen zu treffen, um die Heimkehr ihres Sohnes auf traditionell zyprische
Art zu zelebrieren: mit gutem Essen und warmem Wein.
Während sie kochte, klärte Dhespina ihren Sohn über alles auf, was er verpasst hatte: Lenyas Schwangerschaft, Christakis’
zweiten Sohn, Marios’ Talent zum Tischler, die Hämorrhoiden des alten Televantos, die mit den ausschweifenden Feierlichkeiten
seit der Befreiung der Insel besonders unschön geraten waren.
»Du hättest ihn sehen sollen, den verrückten alten Kerl«, sagte Dhespina lachend, als sie sich an den Tisch setzte. »Hat getanzt
wie ein Jüngling und gefuttert wie ein Scheunendrescher. Am nächsten Tag konnte er sich natürlich kaum bewegen, aber er hat
nicht eine Sekunde aufgehört zu lächeln, nicht mal, als er drüben im Gartenhaus lag und auf seine Medizin wartete.«
»Ich werde unsere Kissen verbrennen müssen«, knurrte Georgios. Er nahm eine zweite Flasche Wein zur Hand, als die Haustür
aufflog und die hünenhafte Gestalt von Christakis den Rahmen füllte. Hinter ihm drängten sich Marios und Maria in die Stube.
Loukis sprang auf und stürzte auf Christakis zu, der ihn statt mit einer Umarmung jedoch mit einem Faustschlag begrüßte. Loukis
ging zu Boden, woraufhin ihn sein großer Bruder beim Kragen packte, hochriss und in eine Umarmung presste, die so fest war,
dass er zu ersticken meinte.
»Gut, dich wieder bei uns zu haben, Bruder«, sagte Christakis mit barscher Rührseligkeit.
Als er lockerließ, japste Loukis nach Luft. Marios kam auf ihn zu und umarmte den jüngeren Bruder ebenfalls innig und fest.
»Du hast mir gefehlt, Loukis«, sagte er.
»Du mir auch, Marios«, erwiderte Loukis ehrlich. Er rieb sich sein ramponiertes Kinn, stellte einen Stuhl auf, der unter der
Wucht von Christakis’ Gefühlswallung umgefallen war, und setzte sich wieder an den Tisch. Auch seine Brüder nahmen Platz und
luden sich ihre Teller voll, während Georgios ihnen Wein einschenkte. Maria setzte sich auf die Treppe. Eine halbe Stunde
später standen Stavros und Pembe vor der Tür, um den verlorenen Sohn zu begrüßen. Wie immer belebten die beiden mit ihrem
ganz eigenen Humor die Runde, doch Loukis meinte etwas in ihrem Blick zu entdecken, das er nicht recht greifen konnte – und
das ihn daran erinnerte, wie lange er fort gewesen war. Die Zeit war nicht stehengeblieben, so viel war klar. Plötzlichwurde er unruhig und stand auf. Er hatte lange genug gewartet.
»Wo willst du hin?«, fragte seine Mutter.
»Nun, wenn sie zu störrisch ist, um zu mir zu kommen, dann muss ich wohl zu ihr gehen. Ich will zu Praxi.«
Im Nu erstarben sämtliche Gespräche. Ein ungutes Gefühl kroch Loukis den Nacken hinauf.
»Was ist los?«, fragte er. »Ist irgendwas mit ihr?«
Er blickte in die ernsten Gesichter seiner Familie, unwillkürlich zogen Horrorszenarien an seinem geistigen Auge vorbei, hervorgerufen
durch all jene, die er in Troodos hatte mitansehen müssen. Panik schnürte ihm die Kehle zu.
»Was ist los?«, fragte er noch einmal.
Dhespina erhob sich.
»Praxi wohnt nicht mehr hier im Dorf, mein Sohn, sie lebt jetzt in Keryneia …«
»Das ist alles?«, seufzte Loukis erleichtert.
Doch seine Mutter war noch nicht fertig. »Sie lebt in Keryneia, mit ihrem Mann, Loukis. Ihrem Ehemann und ihrem Baby …«
Loukis Knie gaben nach, er musste sich auf einen Stuhl stützen. Sein Magen zog sich zusammen, und ihm wurde speiübel. Er schüttelte
den Kopf. »Nein. Nein, ich glaube dir kein Wort, das würde sie niemals …«
»Sie ist verheiratet, Loukis.« Dhespina verlieh ihren Worten mehr Nachdruck als beabsichtigt. Sie wurde ganz blass, als sie
mitansehen musste, wie diese Tatsache allmählich in das Bewusstsein ihres Sohnes drang und ihn vernichtete.
Loukis schien es, als müsste sein Herz auf der Stelle aufhören zu schlagen. Er bekam keine Luft mehr. Der Raum begann
Weitere Kostenlose Bücher