Schattentraeumer - Roman
wollten, sondern weil sie glaubten, sich durch seine Nachbarschaft sicherer
zu fühlen. Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten Narben hinterlassen, und mit zunehmendem Alter verspürten sie eine
Verwundbarkeit, mit der sie nie gerechnet hatten.
Loukis weigerte sich zunächst, das überaus großzügige Angebot der beiden anzunehmen. Als Mehmet sich jedochsträubte, in Nachverhandlungen zu treten, und sagte, Loukis könne sein Angebot entweder so annehmen oder es bleiben lassen,
schlug Loukis lachend ein.
Der Frühling ging in den Sommer über, und Loukis arbeitete wie ein Besessener an seinem neuen Heim. Solange seine Hände zu
tun hatten, gelang es ihm, dem Verlangen zu widerstehen, nach Keryneia zu gehen. Er wusste, dass er sie eines Tages treffen
würde, aber er wusste auch, dass er warten konnte. Was er jetzt brauchte, war der Freiraum, den ihm Mehmets Felder boten.
Hier konnte er zur Besinnung kommen. Er würde ein Haus bauen, sein Leben wiederaufbauen, und war erst einmal die letzte Tür
eingehängt, würde er schon wissen, was zu tun war.
Tagsüber schuftete Loukis allein auf seiner Baustelle, abends stießen dann sein Vater und seine Brüder zu ihm. Unter dem Gewicht
von Ziegelsteinen und Holzbalken wuchsen die vier wieder als Familie zusammen. Loukis plante kein großes Gebäude, lediglich
ein einstöckiges, L-förmiges Wohnhaus mit zwei Zimmern und einem Bad. Dennoch begossen die Männer jeden noch so kleinen Fortschritt
mit einer Flasche Wein, und wann immer Dhespina vorbeikam, um ihr Werk zu begutachten, spendete sie Beifall. Sie hatte es
alles andere als eilig, ihren Sohn wieder ziehen zu lassen, doch es freute sie, dass er in Zukunft ganz in ihrer Nähe wohnen
würde. Wenn sie ihren Männern bei der Arbeit zusah, bedauerte sie einzig, dass Nicos nicht bei ihnen war.
Seit Loukis’ Rückkehr hatte Dhespina bereits etliche Male überlegt, ihrem Sohn die Wahrheit zu offenbaren. Doch immer schien
Georgios instinktiv zu spüren, wenn sie dazu ansetzen wollte, und hielt sie mit einem warnenden Blick zurück. Vielleicht hatte
er recht: Sollte die Wahrheit danach streben, ans Licht zu kommen, würde sie es auch ohne ihre Hilfe tun. Vermutlich war es
sogar besser, wenn ihr Sohn weiterhin nichts ahnte. Denn nur wenn er frei war, hatte er die Möglichkeit, ein neues Leben zu
beginnen, fernab von dem Schmerz, den sein altes bedeutete. Nicht, dass er für etwas Neues bereit gewesenwäre, doch Dhespina erkannte, dass Maria im Hintergrund auf ihre Chance wartete – und, was noch trauriger war, Michalakis
ebenfalls.
Sie waren nur ein paar Mal miteinander spazieren gegangen, doch Michalakis war Feuer und Flamme für dieses Mädchen, weshalb
er sich nun in die Hauptstadt zurückgezogen hatte, um seine Enttäuschung hinter Zeitungsartikeln zu verstecken, die später
einen Ehrenplatz an den elterlichen Wänden erhalten würden. Insgesamt vier Titelgeschichten hatte er inzwischen geschrieben:
über Makarios’ fulminante Rückkehr, die offizielle Einstellung der Kampfhandlungen der EOKA, Grivas’ Flucht nach Griechenland
sowie die Abgabe illegaler Waffen. Doch Dhespina konnte keiner ihrer Söhne etwas vormachen. Selbst wenn Michalakis wirklich
viel zu tun hatte, entging ihr nicht, wie sehr ihn die Geschichte mit Maria verletzte. Ebenso wenig entging ihr, dass Loukis
rein gar nichts von all dem mitzubekommen schien.
Während die Mauern auf Mehmets Land allmählich die Gestalt von Loukis’ neuem Zuhause annahmen, ging das übrige Zypern ganz
in seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit auf. Die Menschen begannen an eine Zukunft zu glauben, in der sie nicht von ausländischen
Besatzern unterdrückt wurden und in der sich die türkische und die griechische Bevölkerung nicht länger gegenseitig bekämpften.
Wie als ein Zeichen, dass nun alles gut werden würde, brachte Lenya im Sommer ein gesundes Mädchen zur Welt. Sie nannte sie
Niki, in Gedenken an Nicos, und Dhespina rührte die Geste zu Tränen der Freude und Dankbarkeit.
»Sie ist entzückend«, sagte sie zu Lenya, als sie die Kleine auf den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die weichen, hellen Locken
gab.
»Ich hab dir ja gesagt, dass das Blonde aus deiner Familie stammt«, witzelte Georgios, als er an der Reihe war, das Baby zu
halten.
»Pass bloß auf, Lenya, dass Mamma deiner Kleinen nicht denKopf rasiert, wenn du nicht hinschaust«, meldete sich nun Loukis zu Wort. »Los jetzt, Papa, gib sie mir
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