Schattentraeumer - Roman
bist,
haben wir darüber noch gar nicht gesprochen: Der Krieg ist aus, Kind, wenn es das ist, worauf du wartest. Ja, der Krieg ist
aus!«
Havva rückte mit ihrem Stuhl näher an ihn heran, um ihm von den Ereignissen zu berichten, die sich in den letzten Tagen überstürzt
hatten. Loukis hörte ihr ungläubig zu. Nichts davon ergab einen Sinn. Es erschien zu schnell, zu einfach. Er war eingeschlafen,
und die Insel war aufgewacht.
»Nein, es ist wahr«, behauptete Havva. »Der griechische und der türkische Ministerpräsident haben sich mit den Briten geeinigt
und dann in London mit eurem Erzbischof Makarios ein Abkommen geschlossen, mit dem das Ende der Kolonialherrschaft besiegelt
wird. Die Briten behalten zwei Stützpunkte, aber Zypern wird eine unabhängige Republik, in der griechische und türkische Zyprer
gemeinsam regieren … Wirklich, es ist erstaunlich, dass du von dem Glockengeläut nicht aufgewacht bist. Sie haben bestimmt
zwanzig Minuten lang geläutet. Allerdings wusste da noch niemand, was der ganze Wirbel überhaupt zu bedeuten hatte, bis die
Neuigkeit im Radio verkündet wurde. Zypern ist frei, Loukis!«
Zypern ist frei – es gelang Loukis nur mit Mühe, seine wütende Fassungslosigkeit im Zaum zu halten. Wenn es stimmte, was die
alte Frau sagte, dann waren seine Freunde nur wenige Tage vor der Erlangung der Unabhängigkeit umgekommen, für die sie all
die Jahre gekämpft hatten. Loukis musste an Toulla denken, an die Verpflichtung, den Tod ihres Bruders zu rächen, die sie
sich selbst auferlegt hatte. Wie sie nur wenige Minuten vor ihrem Tod schier daran verzweifelt war, dass der Kampf kein Ende
nahm. Er dachte an Antoniou und Harris, an ihren Durst nach Freiheit und ihren Hunger nach Frauen. Und er dachte an Stelios.
Stelios mit seiner schwülstigen Sprache und der süßlich riechenden Pfeife.
»Weißt du noch, an welchem Tag die EOKA den Kampf aufgenommen hat?«, fragte Havva, als könnte sie seine Gedanken lesen.
»1955«, antwortete Loukis mürrisch.
»Nein, ich meine den Tag, nicht das Jahr.«
Loukis schüttelte den Kopf.
»Es war am ersten April«, sagte die alte Frau seufzend und lächelte traurig.
»Wie passend«, bestätigte Loukis. Dann stand er wortlos auf und ging aus dem Zimmer, hinaus in die Sonne, um zu sehen, wie
sich die Freiheit anfühlte.
Der Kampf war vorbei, und seine Freunde waren ohne jeden Zweifel tot. Loukis blieb noch einen weiteren Tag bei Havva, er wollte
sich erkenntlich zeigen für ihre Fürsorge. Er bemühte sich, zu helfen wo er sah, dass Not am Mann war. Mit Hammer und Nagel
fixierte er ein wackeliges Tischbein, er hackte Kaminholz, ölte sämtliche Türen und fegte die Überreste des Winters von der
Veranda. Am Morgen darauf küsste er die alte Frau auf die Wangen und sagte ihr Lebewohl.
Havva weinte zum Abschied, doch sie versteckte ihr Gesicht in einem Schal, so dass Loukis ihre Tränen nicht sehen konnte.
Mit nichts als seinen Kleidern am Leib, die Havva liebevoll gewaschen und geflickt hatte, marschierte er die Hauptstraße hinunter.
Er war überzeugt, früher oder später in eine britische Kontrolle zu geraten. Das herausforderndste Hindernis, auf das er traf,
war indessen eine Herde verspielter Ziegen.
Am Nachmittag erreichte Loukis die Böschung, die zu einem kleinen Haus hinunterführte, das am Rande eines kleinen Dorfes stand.
Demetris saß im Garten auf einem Holzstuhl. Verblüfft wandte er sich um, als er eine vertraute Stimme vernahm. Loukis musste
schlucken. Demetris’ linke Gesichtshälfte war von Narben übersät. Sein Auge trug das milchigweiße Zeichen der Blindheit.
Demetris sprang sofort auf und umarmte Loukis stürmisch wie einen verlorenen Sohn. Mit Tränen der Freude und des Schmerzes
in den Augen rief er Lella, die sogleich aus der Küche gerannt kam und Loukis’ Gesicht mit Küssen bedeckte. Loukis erschrak,
wie dünn die beiden seit ihrer letzten Begegnung geworden waren, sie wirkten kleiner und um Jahre gealtert.
Nach dem Abendessen, es gab gebratenes Lamm mit Kartoffeln,verbrachte Loukis die Nacht in seinem alten Bett. Am nächsten Morgen gesellte er sich zu Demetris ins Bad, um sich ein letztes
Mal gemeinsam mit ihm zu rasieren. Nicht mit einer Silbe erwähnten seine einstigen Gasteltern das Martyrium, das sie erlitten
hatten, und Loukis wagte nicht, danach zu fragen. Er wusste ja selbst nur zu gut, dass man manche Erinnerungen am besten für
immer tief in sich begrub.
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