Schattentraeumer - Roman

Sohnes zu kümmern,
     und sie war sich verdammt sicher, dass ihr Sohn es ebenfalls wusste. In gewisser Weise tat ihr das Mädchen leid, andererseits
     konnte sie ihr nicht verzeihen, in welches Unglück sie einen anderen ihrer Söhne gestürzt hatte.
    Seit Loukis’ Rückkehr stattete Michalakis seinen Eltern nur noch Stippvisiten ab. Natürlich verstand Dhespina, dass er in
     der Hauptstadt gebraucht wurde: Er musste seine Arbeit erledigen, in diesen Tagen war sie wichtiger denn je. Denn noch in
     dieser Nacht würde Geschichte geschrieben werden – es war der 15. August 1960.
    »Kommst du heute Abend zu uns rüber?«, fragte sie Loukis.
    »Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen«, sagte er lächelnd.
    »Na, das hoffe ich, und bring Mehmet und Pembe mit.«
    Am Abend aß die Familie zusammen mit Christakis, Yianoulla, ihren drei kleinen Jungs sowie den beiden türkischen Gästen im
     Garten. Eine leichte Brise sorgte für Erfrischung und trug den Duft von Kebab und Zigarettenrauch mit sich fort. Bald war
     der Kasten Keo-Bier, den Marios aus der Stadt mitgebracht hatte, ausgetrunken, die Unterhaltungen wurden lebhafter und lauter.
     Kurz vor Mitternacht holte Georgios das Radio nach draußen, es wurde still am Tisch. Punkt Mitternacht verkündete ein Sprecher,
     dass soeben die britische Flagge auf dem Regierungsgebäude eingeholt wurde.
    Von seinem Platz in der Redaktion aus hörte Michalakis eine Fanfare ertönen, gefolgt von einundzwanzig Salutschüssen. Es war
     die Geburtsstunde der unabhängigen Republik Zypern, und zu seiner Überraschung wurde selbst er von seinen Gefühlen überwältigt
     – die Insel war frei.
    Insgesamt sechshundert zumeist griechische Opfer hatte der Feldzug der EOKA gefordert. Weitere eintausendzweihundertsechzig
     Menschen waren verwundet und insgesamt einhundertsechsundfünfzig Briten getötet worden. Man hatte einen hohen Preis für die
     Unabhängigkeit bezahlt, und trotz aller Freude, von dem Ereignis berichten zu dürfen, fragte sich Michalakis, ob wohl auch
     die Hinterbliebenen der Meinung waren, dass es das wert gewesen sei.
    Zehn Stunden später trat das erste Parlament in der dreitausendjährigen Geschichte des Landes zusammen, um Präsident Makarios
     und Vizepräsident Fazil Küçük offiziell in ihre Ämter einzusetzen. Es wurde die Flagge der Republik Zypern gehisst: Golden
     hob sich die Silhouette der Insel vor einem weißen Hintergrund ab; darunter kreuzten sich zwei Olivenzweige, die Frieden und
     Einheit symbolisierten. Gemeinsam teilten sich der griechische Präsident und der türkische Vizepräsident die politischeMacht, um der einen Gemeinschaft die Möglichkeit zu geben, auf demokratischem Weg für ihre Träume zu kämpfen, und der anderen
     jenen Respekt zu erweisen, der ihr nach ihrer Meinung so lange verwehrt worden war. Indessen zogen sich die Briten auf ihre
     souveränen Stützpunkte Dekelia und Akrotiri zurück, und der ehemalige britische Gouverneur Sir Hugh Foot schickte im zyprischen
     Rundfunk eine letzte Nachricht an das Volk, das er ruhigzustellen versucht hatte: »Wie die Zukunft Ihres Landes aussieht?
     Es ist nun an Ihnen, diese Frage zu beantworten. Pessimistische Beobachter sagen, dass sich Ihre beiden Gemeinschaften gegenseitig
     vernichten werden – Griechen gegen Türken und Links gegen Rechts. Sie sagen, dass Sie einander in Stücke reißen werden, dass
     die Insel in einem Meer aus Blut und Hass untergehen wird. So könnte es sein … Doch ich glaube das nicht. Menschen, die am
     Eingang zur Hölle stehen, werden nicht über die Schwelle treten.«

Zweiter Teil
1963
    Im Falle der Verletzung von Bestimmungen dieses Vertrages kommen Griechenland, die Türkei und das Vereinigte Königreich zusammen
     und beraten hinsichtlich der nötigen Maßnahmen zur Gewährleistung der Einhaltung der Vertragsbestimmungen.
    Für den Fall, dass keine Einigung über ein gemeinsames Vorgehen erzielt werden kann, besitzt jede der drei Garantiemächte
     das Recht, Maßnahmen zu ergreifen mit dem alleinigen Ziel, die Ordnung wiederherzustellen, die durch diesen Vertrag geschaffen
     wurde.
    Garantievertrag Artikel IV, 1960

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    Sie hatte ein ordentliches Alter erreicht, das sagte jeder. Nicht, dass es dieser Umstand irgendwie leichter machte, ihr Ableben
     zu akzeptieren, denn ganz egal, wie spät der Tod an die Tür klopfte, er war in den seltensten Fällen ein gern gesehener Gast.
     Im Nachhinein erkannte Dhespina die verräterischen Anzeichen